Herbert Schmidt, der Gedichte-Aufspürer
Ein Juwelier wurde Doktor der Geschichte, um sich besser gegen das Vergessen wehren zu können. Sein neues Werk widmet er den Juden.
Düsseldorf. Herbert Schmidt geht den Verlegern gehörig auf die Nerven, als er beginnt, für seine Anthologie zu recherchieren. Er ist einer, der unbeirrt sein Ziel verfolgt, seit er 1938 als Zehnjähriger die Ermordung von Leipziger Juden mitansehen muss. So einer gibt nicht so schnell auf, wenn er einmal entschieden hat, dass deutsche Lyrik, verfasst von Autoren mit jüdischen Wurzeln, ein wichtiger Bestandteil deutscher Kulturgeschichte ist und somit in die kollektive Erinnerung gehört. So einer lässt sich von herzlosen Vorzimmerdamen nicht abwimmeln.
Viereinhalb Jahre lang bleibt er hartnäckig wie sonst was, und als Ergebnis legte er gestern im Heine-Institut die knapp 1300 Seiten starke Anthologie „Ist es Freude — ist es Schmerz? Jüdische Wurzeln — deutsche Geschichte“ vor. Darin hat er eine Auswahl an Gedichten zusammengetragen von insgesamt 304 Autoren „mit jüdischen Wurzeln“. Darunter bekannte Namen wie Heinrich Heine, Franz Kafka und Rose Ausländer, aber auch viele gar nicht prominente Verfasser. Auch sie rückt Schmidt für einen Augenblick ins Zentrum, denn zu jedem Autor gibt es einige biografische Zeilen.
„Ich wollte alle aufführen, die in deutscher Sprache Gedichte geschrieben“, sagt Schmidt. Die Angst und Ausgrenzung ebenso formulierten wie zarte Liebesbekundungen und heiße Treueschwüre. Die Lyrik mit Anspruch schufen, tiefgründig und ausdrucksstark oder sentimental.
Dabei trieb ihn oft nur eine Ahnung voran. „Bei Kafka habe ich nur vermutet, er könnte auch Gedichte geschrieben haben. Schließlich existieren von ihm zärtliche Briefe an seine Lebensgefährtinnen.“ Schmidt findet zwölf Gedichte von Kafka.
Auch von Ludwig Börne spürt er Lyrik auf, die dieser unter dem Pseudonym Peter Schiller geschrieben hat. Als Schmidt die Herausgeberin von Börnes Werk mit seinem Wissen konfrontiert, habe sie sehr zurückhaltend reagiert. Schmidt: „Sie sagte, die Gedichte seien doch nur ,Jugendsünden’ gewesen.“
Herbert Schmidt lässt sich von alldem nicht beirren. Seit seiner Kindheit beschäftigt ihn das Judentum. Da war das Trauma von 1938, aber auch der freie Geist des Vaters, der nie aufhörte, seine jüdischen Freunde zu treffen und in dessen Haus „Hitler“ stets ein Schimpfwort war. Schmidt wächst in der ehemaligen DDR auf, er darf nicht studieren und macht notgedrungen eine Lehre als Goldschmied. 1953 kommt er nach Düsseldorf und eröffnet ein Geschäft an der Graf-Adolf-Straße. Erst 1985 findet er den Mut, seiner Neigung zu folgen und Geschichte zu studieren, 1997 macht er seinen Doktor.
Freiheit und Gerechtigkeit bedeuten ihm alles. Darum zögert er keine Sekunde, als ihn ein Angehöriger 1961 bittet, einem Bekannten zu helfen. Dieser Bekannte ist Gerhard Richter, der damals nach Westdeutschland flieht. Schmidt besorgt ihm eine Wohnung und Möbel. „Das hat er nie vergessen.“ Richter bedankt sich auf seine Weise. Er hat für den Einband der Anthologie sein Werk „Blumen“ zur Verfügung gestellt sowie fünf Abbildungen aus seiner Werkgruppe „48“ Porträts. Wenn das Buch am 28. Januar geladenen Gästen vorgestellt wird, wird auch Richter erwartet. Schauspielerin Iris Berben liest Gedichte vor.