Kinderstück: Die Liebe nimmt den Atem

Am Jungen Schauspielhaus gelingt mit „Kreidekreis“ ein anrührendes Stück über Mutterliebe und Theaterkunst.

Foto: Sebastian Hoppe

Düsseldorf. „Auf Brecht“, brüllt Richter Schuschu und stößt an mit seinen geifernden Gerichtsdienern. Runter mit dem Reiswein und weiter im Text. Auch wenn es ihm lästig ist, Schuschu muss entscheiden, wer von den beiden Frauen vor ihm eine wahre Mutter ist. Das Schreien des Kindes dröhnt dabei in seinen Ohren. Er windet sich. Der Zuschauer hört nichts, er sieht nur ein großes, gezeichnetes Bild auf einer Leinwand — das „Wahaaa“ und das verzerrte Gesicht des Jungen könnten dennoch schmerzhafter nicht sein. Eine sehr alte Geschichte aus China, neu erzählt und überzeugend auf die Bühne gebracht — das bietet das Stück „Kreidekreis“ im Theater an der Münsterstraße. Wer bei diesem Titel an Bertold Brecht denkt, liegt nur teilweise richtig.

Als Uraufführung setzt Krystyn Tuschoff das erste Kinderstück des Theaterregisseurs und Autors Armin Petras, zurzeit Intendant am Schauspiel Stuttgart, in Szene. Petras hat sich bei Klabund bedient, dessen „Kreidekreis“-Fassung stammt von 1925 und diente Brecht als Vorlage für den Klassiker „Der kaukasische Kreidekreis“. Das Düsseldorfer Projekt ist eine Ring-Uraufführung mit dem Berliner Grips Theater und der Compania Paidéia aus Sao Paulo. Petras, der sich als Autor „Fritz Kater“ nennt und in Deutschland ein begehrter Theatermann ist, hat sich von Stefan Fischer-Fels überzeugen lassen, erstmals für Kinder zu schreiben. Der derzeitige Leiter des Grips Theaters und designierte Chef am Düsseldorfer Jungen Schauspielhaus Fischer-Fels kam daher auch zur Premiere an die Münsterstraße.

Gleicher Text, drei Inszenierungen. Petras hat für sein Stück eine neue Rahmenhandlung geschrieben. Li (Jonathan Schimmer), ein kleiner Junge, liegt im Krankenhaus. Um ihn herum medizinisches Gerät und Superhelden-Comics. Arzt, Schwester und Pfleger behandeln ihn wie enge Bekannte. Die Stimmung ist gut. Nur die Mutter blickt sorgenvoll auf ihren Jungen, ängstlich will sie ihn vor jeder Anstrengung beschützen, selbst seiner Phantasie aus Furcht vor einem erneuten Anfall Grenzen setzen. Man ahnt, diese Liebe nimmt Li den Atem. Dann kommt der Geburtstag, der kleine Patient hat nur einen Wunsch: Alle spielen mit ihm die Geschichte von Haitang, dem jungen Mädchen, das an den bösen Mandarin Ma verkauft wird, dessen Herz rührt und die schließlich das Kind Li auf die Welt bringt. Wie in seinen Comics springen die Figuren ins Bild, begleitet von Booms und Bangs. Später findet sich Haitang vor dem Richter Schuschu wieder und entscheidet sich am Kreidekreis, nicht an ihrem Sohn zu zerren, ihn freizulassen. Dieser Moment ist einer der stärksten der Inszenierung.

Das Spiel im Spiel ist derart anrührend, das man als Zuschauer mitfühlt mit dieser verzweifelten Mutter Haitang, die Julia Goldberg so überzeugend zart und stark zugleich verkörpert. Genau in dem Moment, als sie den Sohn verloren glaubt, sagt Li, der nun aus dem von ihm vorgeführten Stück aussteigt, dass alles nur Theater sei. „Wir spielen doch nur“, sagt er.

Welche Kraft Schauspiel hat, das erschließt sich beim Zuschauen auf diese Weise ganz unmittelbar. Ein Verdienst der überzeugenden Regie, aber auch der starken Darsteller, die geschickt von einer Rolle in die andere springen. Es ist ein Vergnügen Julia Dillmann dabei zuzusehen, wie sie sich aus der fürsorglichen Krankenschwester zur fiesen Yü verwandelt, die sich mit giftblonder Perücke und angeschnalltem Hintern als angebliche Mutter ausgibt. Überzeichnet wie eine Comicfigur.