Künstler spürt Verfälschungen auf

Sebastian Riemer legt die Retuschierungen auf historischen Fotos offen und entwickelt auf diese Weise eine neue Kunst.

Foto: Sebastian Riemer

Düsseldorf. Die Fotografie in Düsseldorf hat sich seit dem Abgang von Thomas Ruff, der einst die Becher-Klasse an der Kunstakademie übernommen hatte, nicht merklich weiterentwickelt. Die aktuelle Szene beschäftigt sich eher mit medienspezifischen Fragen oder mit Computerkunst. Künstler, die weiterhin die eigene Kamera zu Hilfe nehmen, haben Seltenheitswert. Einer von ihnen ist Sebastian Riemer, Jahrgang 1982, Meisterschüler von Thomas Ruff, der sein Diplom bei dessen Nachfolger Christopher Williams machte. Seine Kunst ist erfrischend neu. Ein Porträt.

Foto: Riemer

Neun Jahre sind vergangen, seit er als Student zum ersten Mal auffiel. Er zeigte beim Rundgang 2005 Fotos, die man erst beim genauen Hinschauen überhaupt entziffern konnte. Er hatte auf der Autobahn aus dem fahrenden Wagen durch die doppelte Scheibe von Heckfenster und Windschutzscheibe den Fahrer im anderen Auto fotografiert.

Derlei Autobahnporträts sollten der Beginn einer Arbeitsweise werden, die für den jungen Mann typisch ist: das Spiel mit Schärfe und Unschärfe, und damit die Abkehr vom dokumentarischen Ansatz der Fotografie. Die Person im Bild lässt sich nicht identifizieren. Die Fotos wirken sehr malerisch, haben aber mit Malerei nichts zu tun. Die grünliche Farbe kommt nicht vom Gesicht, sondern von der zweiten Glasscheibe. Der Betrachter erfasst das Bild nur, wenn er dessen Überlagerungen zurückverfolgt.

2013 stellte Riemer in der Pariser Galerie Dix9 aus und sah sich auf der Fotomesse um, auf der Suche nach alten Bildern. Denn zuvor hatte er auf dem Trödelmarkt zwei alte Aufnahmen entdeckt, eine kleinere und eine größere, die zu einem neuen Aha-Erlebnis führten. Er weiß inzwischen, dass beide Fotos aus den 20er Jahren stammen und retuschiert (also übermalt) sind. Er begann zu forschen.

Riemer wollte es genau wissen und schickte seine Trouvaillen durch seinen Scanner. Hierbei handelt es sich um ein hochauflösendes Gerät, das locker 500 Megapixel auswirft. Dabei kam Erstaunliches zutage: Der Scanner zeigte die Retuschen und mithin die Verschönerungsversuche an, die die Fotografen oder Zeitungsmacher von einst anstellten, um die jeweilige Aufnahme aufzubessern.

Riemer durchfilzt seitdem Tausende alte Aufnahmen in der Woche, die massenweise im Internet auftauchen. Mit Habichtaugen sortiert er die Spreu vom Weizen. Ein besonders schönes Beispiel ist eine Ballwerferin. Sie hält eigentlich einen Gymnastikball hoch. Der Ball, beide Arme, die Armansätze und der Unterkörper bis kurz unter der Taille sind jedoch mit schwarzer Tusche ausgestrichen. Mehr noch, unterhalb des Strichs ist der Zeitungsmacher gnadenlos mit der kurzen Turnhose, den sportlich strammen Beinen und den unsportlichen Halbschuhen mit Schnürsenkel umgegangen. Das Mädchen lächelt weiter, aber jenseits der Schultern wirkt es wie amputiert. Riemer fotografiert das alte Foto und zieht es im hochauflösenden Scanner, der rund 4800 dpi hat, immens vergrößert in Schwarz-Weiß ab. Das „neue“ Bild hat einen wunderbaren Schmelz, es wirkt befremdend schön, und es erzählt diverse Fotogeschichten.

Ein anderes Beispiel ist eine Schönheitskönigin aus den 1940er Jahren, mit deren Körper man gleichfalls recht aggressiv umgegangen ist. Die sportliche Grazie hat nur noch einen Arm, der rechte wurde wegretuschiert, weil dadurch die Brust im Einteiler besser zum Vorschein kommt. Und Riemer erklärt: „Wenn der Arm vor der Brustspitze sitzt, muss er halt weg, damit die Brust besser herauskommt. Dann weiß man als Betrachter zwar nicht, was mit der Schulter ist, aber die Silhouette wirkt nun weiblicher.“