100. Geburtstag von Gerd Semmer Der Vater des deutschen Protestsongs
Düsseldorf · Der Liedermacher, Dichter, Satiriker und Friedensaktivist Gerd Semmer gilt als Wegbereiter der westdeutschen Friedensbewegung. Seine kreativste Zeit verbrachte er in der Stadt an der Düssel. Heute würde Semmer seinen 100. Geburtstag feiern.
„Die Leute sind hier wundervoll gekleidet, / den Armen haben sie die Stadt verleidet. / Sie leben in dem Bunker eingesperrt, / Weil Armut heute sich nicht mehr gehört. // So steht es und das Leben wäre heiter / Gäb’s nicht noch immer Volksverleiter. / Doch wird es unaufhaltsam stetig besser. / Denn endlich wohnt in Düsseldorf auch Moritz Messer“. Diese Verse stammen aus dem Gedicht „Düsseldorf an der Düssel“. Eine Parodie auf „die Stadt von Ata, Imi und Persil“ von Moritz Messer. Veröffentlicht im Mai 1955 in der Satire-Zeitschrift „Der Deutsche Michel“. Hinter dem Pseudonym „Moritz Messer“ verbirgt sich Gerd Semmer. Inspiriert von Mackie Messer, dem Londoner Gangsterboss aus der „Dreigroschenoper“ von Bertolt Brecht, dem Lieblingsautor von Semmer. In der satirischen Hommage auf Düsseldorf spiegeln sich seine politische Haltung, ethische Gesinnung und humorvolle Sichtweise auf ernste Dinge wider. „Mit Witz stellt Semmer die Kehrseite des Wirtschaftswunders ins Licht, prangert die soziale Misere an, kritisiert die Wiederaufrüstung und persifliert das Kulturbanausentum in der neuen Metropole am Rhein“, sagt Literaturwissenschaftlerin Karin Füllner. Die ehemalige Programmleiterin des Heine-Instituts hat zu Semmers 75. Geburtstag im Haus an der Bilker Straße 12 eine Ausstellung gezeigt und zu seinem 50. Todestag ein „Gerd-Semmer-Lesebuch“ herausgegeben.
In Düsseldorf wirkte Semmer als kreativer Tausendsassa
Doch wenn Semmer Düsseldorf auch geistreich verspottete, so hat er dort auch seine kreativsten und fruchtbarsten Jahre verbracht. Von 1953 bis 1965 lebte und arbeitete er in Golzheim, Oberkassel und Flingern. In Düsseldorf avancierte Semmer zum „Vater des deutschen Protestsongs“ und „Vater des neuen deutschen Chansons“. Doch nicht nur das, vielmehr wirkte er als kreativer Tausendsassa: Liedermacher, Friedensaktivist, Dichter, Satiriker, Journalist, Übersetzer, Puppenspieler, aber auch ein unermüdlicher Netzwerker.
Am Samstag, 21. Dezember, würde Gerd Semmer seinen 100. Geburtstag feiern. Seine Mutter bezeichnete ihn als „kleines Christkind“. Semmer selbst schrieb viele Gedichte über Weihnachten, in satirischer Manier, versteht sich. Etwa „Die Engel sind müde“, ein Vers-Werk über den Weihnachtskommerz: „Doch dann bin ich am Ende meiner Kraft, / wenn ich im Kaufhaus an der Kasse steh, / Halleluja / wenn ich mir die Bescherung da beseh, / dann hat der Weihnachtsrummel mich geschafft“.
Gerd Semmer wurde 1919 in Paderborn geboren. Sein Vater arbeitete als Schneidermeister und plante, dass auch sein Sohn ins Textil-Gewerbe einsteigt. So wäre es höchstwahrscheinlich auch gekommen, eine Schneiderlehre hatte Gerd bei seinem Vater bereits absolviert. Wäre er nicht in jungen Jahren von einer chronischen Nierenentzündung heimgesucht worden. Die Krankheit stimmte den Vater um, der Filius durfte das tun, was er wollte: Studieren. Er ging 1943 nach Wien. Seine Fächer: Theaterwissenschaft, Kunstgeschichte und Germanistik. „Dort lernte er während des Krieges einen KZ-Überlebenden und das Umfeld der jüdischen Verfolgten kennen und wurde zum Anti-Faschisten. Durch die Krankheit konnte er seinen Weg gehen“, sagt Semmers Tochter Bettina, die als Bildende Künstlerin arbeitet.
Schon als Kind begeisterte sich Gerd Semmer für Theater und Literatur: „Er hat Kasperle-Theater gespielt und hat eigene Stücke geschrieben. Als sein Lehrer einmal gemerkt hat, dass er unter der Schulbank schrieb, hat er das Stück konfisziert und ihm mit den Worten wiedergegeben: ‚Schreiben Sie weiter!’“, erzählt Bettina Semmer. Sie sorgt dafür, dass das Werk ihres Vaters weiterhin im Gedächtnis bleibt. Sie betreibt eine Facebook-Seite zu Ehren von Gerd Semmer, wirkt an Buchveröffentlichungen, Ausstellungen und Veranstaltungen mit, hat auch einen Film über ihren Vater gedreht.
Nach dem Krieg, 1946, studierte Semmer in Marburg weiter. Sein Lieblingsliterat: Bertolt Brecht. Er wollte auch eine Doktorarbeit über ihn schreiben, doch der Tod des Doktorvaters und der Kalte Krieg vereitelten das Vorhaben. 1953 wechselte er mit seiner Frau Else nach Düsseldorf- Golzheim, ins Häuschen des Schriftstellers und Malers Adolf Uzarski. Semmer arbeitete nun bei der Satire-Zeitschrift „Der Deutsche Michel“, die gerade neu gegründet wurde. Hier konnte er eigene Gedichte und satirische Verse veröffentlichen. Doch oft gab es Ärger in der Redaktion, woraufhin man ihn mit dem Auftrag nach Hause schickte, zu einer Grafik ein paar Verse zu verfassen. „’Michelverse’, scharf, witzig, die Tagespolitik und Politiker aufs Korn nehmend“, schreibt seine Frau Else in ihren Erinnerungen.
Gerd Semmer erlebt in Düsseldorf fruchtbare Jahre
1955 gab Semmer seinen Posten beim „Deutschen Michel“ auf und heuerte bei der „Deutschen Volkszeitung“ in Düsseldorf als Kulturredakteur an. Eine Tätigkeit, die ihm stärker zusagte. „Im Feuilleton- und Unterhaltungsteil machte er auf junge Künstler und Schriftsteller aufmerksam, in dem er Arbeiten von ihnen veröffentlichte. Er selbst schrieb für die Zeitung Film- und Theaterkritiken“, berichtet Else Semmer. Doch 1956 feuerte der Chefredakteur Semmer aufgrund von Meinungsverschiedenheiten.
Die Geldsorgen wuchsen. Seine Frau finanzierte letztlich als Realschul-Lehrerin die vierköpfige Familie mit Sohn und Tochter. Doch trotz der schwierigen Zeit beschreibt Else Semmer die Düsseldorfer Jahre „als fruchtbare und lebendige Zeit“. 1956 lernte sie mit ihrem Mann beim Purimsfest in der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf den Jazz-Gitarristen Dieter Süverkrüp kennen, den Gerd überzeugte, mit ihm gemeinsam Protest-Songs gegen die Wiederbewaffnung zu kreieren. Gemeinsam mit ihm gründeten sie 1961 in Düsseldorf den „pläne“-Verlag, ein Plattenlabel, das ihnen half ihre linkspolitischen Lieder besser zu verbreiten. Zuvor arbeitete Semmer als Kulturredakteur für die Wochenzeitung „Stimme des Friedens“, die 1959 aus politischen Gründen verboten wurde. Die politische Stimmung in der Adenauer-Ära war anti-links. „Meine Mutter hatte ständig Angst, dass sie ihre Stelle als Lehrerin verliert, weil damals die Telefone abgehört wurden“, sagt Bettina Semmer. Doch auch gegen Widerstände engagierte sich ihr Vater politisch und künstlerisch für Frieden und soziale Gerechtigkeit. Semmer starb 1967 in Ratingen.