Theater: Muttis Wunderkind will’s anders
Nora Schlocker nimmt die bürgerliche Familie ins Visier. Mit Hauptmanns „Einsame Menschen“ trifft sie den Nerv nicht ganz.
Düsseldorf. Sie ist eine Theaterfrau durch und durch. Nora Schlocker sitzt in der sechsten Reihe im Großen Haus, beugt sich vor und folgt gespannt wie ein Bogen jeder Bewegung auf der Bühne. Lautlos spricht sie die Zeilen mit, giggelt bei den Mätzchen. Mitgefühl schreibt sich ihr ins Gesicht:
Vor ihr zerbricht Familie Vockerat und Johannes, das Wunderkind, liegt schließlich tot am Seeufer. Das bürgerliche Ideal ist gescheitert — bei Gerhart Hauptmann, der „Einsame Menschen“ als „sein liebstes Stück“ bezeichnete, und bei Nora Schlocker.
Es ist ihre erste Premiere in Düsseldorf als Hausregisseurin und schon ihr zweiter Job in dieser Rolle. Mit 24 Jahren hat sie fest am Nationaltheater Weimar inszeniert. Jetzt, drei Jahre später, holte Intendant Staffan Holm die Aufsteigerin in sein Team. Sie habe einen weiblichen Blick auf die Stoffe, hat sie vorab gesagt.
Drei Frauen haben es auf Johannes (Ingo Tomi) abgesehen: Seine Mutter (Tina Engel), die es mit ihrem „verrückten Strutzel“ nur gut meint. Es ist ihr Wunderkind, das nicht viel auf die Reihe bekommt. Mit Käthe (Xenia Noetzelmann) hat Johannes einen Sohn. Sie himmelt ihren Mann an, würde eher ihr Baby weggeben als ihren Liebsten. Das Glück scheint perfekt, bis Anna Mahr (Bettina Kerl) auftaucht. Eine Intellektuelle, die zeigt, wie eng die Grenzen der Bürgerlichkeit sind.
Der Abend besticht vor der Pause durch Schauspieler wie Tomi und Engel. Doch trotz Freizeitkleidung mit Krokodil auf der Brust wirken die Menschen wie aus einem vorigen Jahrhundert.
Dass Schlocker dennoch ein Gewinn ist, zeigte ihre Weimarer-Inszenierung von Sartres „Die schmutzigen Hände“, die beim Willkommens-Festival in Düsseldorf zu sehen war. In beeindruckend klarer Regie-Sprache führt sie politische Positionen vor und zwingt Zuschauer, Stellung zu beziehen. Mehr davon, Frau Schlocker.