Rebell legt Wert auf Feinheiten
Der Abend mit Claude Lanzmann beginnt mit einem Irrtum. Er habe neben der privaten Geschichte stets auch die große im Blick gehabt, heißt es in der Einleitung zu der Lesung am Dienstag im Landtag. Dabei ist es umgekehrt richtig: Lanzmann, 91 Jahre alt, Filmemacher und Autor, Journalist und Weggefährte von Jean Paul Sartre und Simone de Beauvoir, hat zunächst immer die große Geschichte, die Shoa, im Blick, und bemüht sich, die private darin nicht zu versenken.
Auf solche Feinheiten legt der Mann Wert, der für seinen Dokumentarfilm „Shoa“ jahrelang recherchierte, Täter und Opfer zu Wort kommen ließ. Deswegen weist er Michael Serrer (Literaturbüro NRW) zurecht, der den Abend moderiert und von Lanzmanns Buch „Patagonischer Hase“ als „Erinnerung“ spricht. Lanzmann entschuldigt sich zunächst beim Publikum für seine schlimme Erkältung und intellektuelle Müdigkeit und beweist dann, wie rebellisch und klar sein Geist dennoch ist. „Nein“, sagt der französische Jude, „es geht nicht allein um Erinnerungen, das Werk ist subtiler und komplexer.“ Zum Beweis liest er eine Passage aus dem „Patagonischen Hasen“, die eindringlich seine Erlebnisse in Polen schildert, wohin er im Vorfeld der Dreharbeiten reist. Nur schwer kann er verkraften, dass das furchteinflößende Wort „Treblinka“ auf Straßenschildern auftaucht; dass das Wort „es wagt, weiter zu existieren“.
Mit großer Kraftanstrengung bewältigt Lanzmann die knapp eineinhalbstündige Veranstaltung. Die Lesung in Berlin, die für gestern, Mittwoch, geplant war, wurde abgesagt. kus