Düsseldorf Unterbilks Bücherschrank und seine Patin
Der öffentliche Bücherschrank am Friedensplätzchen ist immer ordentlich wie ein Regal zu Hause. Dafür sorgen Anwohner wie Ingrid Kahmann.
Düsseldorf. Kaum steht sie am Bücherschrank, beginnt Ingrid Kahmann mit dem Sortieren. Dreimal sei sie heute schon hier gewesen und habe geräumt. „Wichtig ist natürlich, dass man den Titel lesen kann“, erklärt die 72-Jährige, dreht falsch stehende Bücher herum und schiebt oben aufgelegte in die Reihen. Nebenbei grüßt sie eine Frau im Blumenrock und findet ein Buch, das sie mitnehmen will: „Leon de Winter, der ist gut!“
Kahmann ist eine der vielen Anwohnenden, die sich regelmäßig um den Offenen Bücherschrank in Unterbilk kümmern. Um den Platz zu beleben, haben einige von ihnen vor 21 Jahren die Anwohnerinitiative Friedensplätzchen gegründet. Sie treffen sich jeden Mittwoch, organisieren Flohmärkte, das Sommerfest und die Nikolausfeier. Als 2011 der erste Bücherschrank am KIT vom Literaturbüro NRW eröffnet wurde, war die Initiative begeistert: Solch einen Schrank wollten sie auch für ihr Viertel. Mit der Unterstützung des Kulturausschusses und der Bezirksvertretung sowie mit Spenden der Anwohner brachten sie die rund 7000 Euro für den Schrank auf. Ein Jahr später gab es bereits die Eröffnungsfeier.
Von Anfang an sei der Schrank gut angenommen worden, erzählt Kahmann. Zweimal die Woche ist Markt, da kämen viele, um Bücher in den Schrank zu stellen und sich welche mitzunehmen. Aber auch sonst sei immer was los am Bücherschrank. Über Fragen wie „Haben Sie das schon gelesen?“ oder „Wie finden Sie das hier?“ komme man ins Gespräch. Man kann sich auf einer der Bänke oder im Literaturcafé Modigliani niederlassen und sofort loslesen. „Dann kann man die Bücher mitnehmen, wieder zurücklegen oder weitergeben“, sagt Kahmann. „Hier wird wirklich viel gelesen.“
Wer in ihrem Viertel lebt, wolle nicht mehr wegziehen. Sie muss es wissen: Die gebürtige Hessin wohnt seit 44 Jahren am Friedensplätzchen, in der Düsselstraße. Lange hat sie Stadt- und Rathausführungen gegeben, heute will sie nicht mehr an Termine gebunden sein. Jetzt ist der Bücherschrank ihre Aufgabe. Mehrmals täglich schaut sie nach dem Rechten. Wie viele Leute sich um den Schrank kümmern, weiß sie nicht. Am Anfang habe es noch eine Liste gegeben, heute würden sie das eher formlos handhaben: „Das hat sich einfach so eingespielt, das funktioniert gut.“ Es gebe viele, die mit anpacken. Zum Beispiel den Herrn mit dem Fahrrad, mit dem sie sich auch oft unterhalte.
Offiziell habe die Initiative auch eine Vereinbarung mit der Bezirksvertretung, dass der Schrank immer sauber und gepflegt sein müsse. „Aber das ist kein Problem“, erzählt die Rentnerin, „ab und zu komme ich eben mit meinem Eimerchen und putze die Scheiben.“ Als der Schrank vor einiger Zeit von Baumblüten bedeckt war, habe sie sich zusammen mit Volker Wirths von der Anwohnerinitiative an die Arbeit gemacht: „Die Blüten kleben ja so, da hat der Volker den Schrank richtig von oben mit dem Schlauch abgespritzt und ich habe den gewienert.“ Manchmal hängen da auch Zettel dran, mit Wohnungsgesuchen, die entferne sie auch. Aber richtigen Vandalismus, Graffiti oder so, gebe es nicht.
Das Prinzip der Bücherschränke ist einfach: Man kann Bücher hineinstellen oder sich welche mitnehmen. Aber immer wieder verirren sich auch andere Dinge hinein, die Kahmann dann aussortiert: Filme auf VHS-Kassetten, CDs, stapelweise alte Computerzeitschriften. Noch neue, kartonverpackte Hausschuhe habe sie auch einmal gefunden. Und zwei BHs — „aber die waren so schäbig, die konnte man nicht mal mehr zu Cash & Raus geben.“ Auch Groschenromane nehme sie heraus, und Bücher, deren Inhalte in Richtung Sekte gehen.
Die guten Bücher bleiben. Romane, Reiseführer, Duden, Kinderbücher, wissenschaftliche Literatur, Tierpflege — hier finde man wirklich die ganze Palette. Kommentare vorne im Buch, wie sie das Schild an der Seite des Schranks vorschlägt, gibt es laut Kahmann nicht, empfohlen werde hier eher mündlich. Dafür finde sie hin und wieder handgeschriebene Rezepte neben den Zeilen von Kochbüchern. Oder alte Widmungen wie „Alles Gute zum Geburtstag“. Auch Bücher, in denen Passagen unterstrichen oder markiert wurden, werden nicht entfernt: „Dann weiß man wenigstens schon, was wichtig und interessant ist.“
Und wenn der Schrank mal vor Büchern überquillt, wird ein Karton voll im alten Kioskhäuschen auf dem Platz gelagert, zu dem auch die Boule-Spieler einen Schlüssel haben und von dem sich die Marktstände Strom und Wasser ziehen. Oder Kahmann schnappt sich einen Stapel und transportiert ihn mit dem Fahrrad zum Bücherschrank am Rhein, in dem meist noch Platz ist.
In die Bibliothek gehe sie schon lange nicht mehr. Der Bücherschrank sei viel spannender, immer wieder gebe es Schätze zu entdecken. Gerade war sie in Prag. Und siehe da, kurz vor ihrer Abreise: zwei Prag-Reiseführer! „Als würde der liebe Gott das schicken“, schwärmt Kahmann. „Man muss nur — und das ist auch meine Lebensphilosophie — zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein, und vor allem aufmerksam.“ Heute zieht sie neben Leon de Winter noch „Ein Kleid von Dior“ aus dem Regal. Eine Geschichte über eine Putzfrau, die nach Paris fährt und unbedingt ein Kleid von Dior haben will. Das habe sie zuletzt vor 50 Jahren gelesen. „Der Bücherschrank ist wirklich ein Gewinn“, fasst sie zusammen. „Für das Viertel und auch für mich persönlich.“
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