Warum pfeifen wir nicht mehr?
In unserer neuen Kolumne überlegt unser Kulturredakteur, warum ein schöner Brauch verloren ging.
Düsseldorf. Ich fragte mich jüngst, wann ich das letzte Mal jemanden auf der Straße - für sich — habe pfeifen hören. Vielleicht liegt es an meiner Wahrnehmung, aber es gelang mir nicht, eine solche Situation, eine Szenerie vor meine Augen und Ohren zu führen. Wird wirklich weniger gepfiffen als früher, haben wir das Pfeifen verlernt oder ist es schlicht aus der Mode gekommen?
Gut, die Zeiten mögen hinter den nebligen Schleiern der Vergangenheit liegen, als man vor überbordender Operettenseligkeit Melodien aus der Lustigen Witwe steten Schrittes auf dem Trottoir schlendernd vor sich hin pfiff. Auch das sich leise aus so manchem Hinterhof hinauswehende Dudeln — vielleicht passt es hier ganz gut — beispielsweise der Internationale, scheint ein vom Aussterben bedrohtes Phänomen zu sein. Ein beseeltes Pfeifen, versonnen und verträumt; gibt es das noch? Wenn überhaupt unter der Dusche, wobei da dürfte hinter Düsseldorfer Wohnungstüren doch auch mal mit mehr Stütze gesungen werden. Wo sind die pfeifenden Kinder? Wo die pfeifenden Jugendligen? Der pfeifende Opa?
Nun ist es also der Inbegriff rückwärtsgewandter Nostalgie, sich nach jener Zeit zu sehnen, als Pfeifen noch Teil unserer täglichen Lebenswirklichkeit war? Pfeifen war immer Ausdruck unbekümmerter Selbstvergessenheit. Auch etwas das uns vielleicht verlorengegangen ist?
Zugleich stand das Pfeifen auf der Straße auch immer im etwas halbseidenen Verdacht, ein Kennzeichen „einfacherer“ Leute zu sein. Ein Herr von Format pfiff nicht. Die Gründe für diese Meinung mögen vielfältig sein. Hat sich die Gruppe der versteiften Pfiffverächter etwa durchgesetzt? Oder schreiten etwa nur noch Menschen von so großem Format durch unsere Straßen, dass es ihnen beileibe nicht in den Sinn käme, so etwas Profanes zu tun wie zu pfeifen?
Wir Menschen ändern uns eigentlich nicht so sehr; wenn, dann verändern sich Gewohnheiten, Gebräuche und gesellschaftliche Rahmenbedingungen. So ist die Frage, wieso wir heute vielleicht weniger pfeifen als vor einigen Jahrzehnten eher aus der Perspektive heraus zu beantworten, was sich seitdem an unseren Gewohnheiten geändert haben mag.
Hier kommt mir in diesem Kontext ein sehr markantes Phänomen in den Sinn. Chronologisch betrachtet: Walkman, Discman, MP3-Player und schließlich die Krönung dieser Entwicklung, das Smartphone. Diese zweifelsfrei wunderbaren Erfindungen habe uns das innere Singen, das sich je nach Gusto im Pfeifen, Summen oder Dudeln entäußerte und seinen Weg in unsere Umwelt bahnte, peu à peu abgenommen.
Ich glaube, die unerschöpflichen Möglichkeiten, die uns durch diese tranportable Musik, ganz intim im oder am Ohr gehört, eröffnet wurden, sind etwas überaus wundervolles. Zweifelsfrei macht es unser Leben — bei jedem auf seine Weise — musikalischer. Doch zeitgleich wurden wir von Musik durchströmten Reproduzenten der uns im Ohr gebliebenen Musik zu bloßen Rezipienten. Wenn ich meine Lieblingsmusik immer und überall im Original hören kann, dann brauche ich es vielleicht nicht mehr pfeifend wiederzubeleben.
Natürlich gibt es auch noch heute reichlich Beispiele für Menschen, die leise während des Musikhörens summen oder sich sogar zum Mitsingen animiert sehen. Doch scheint das Pfeifen als Phänomen besonders unter diesen Veränderungen unserer Gewohnheiten gelitten zu haben. Das ist sehr schade.
Lassen sie uns mehr pfeifen! Mutig gegen eine etwaige Mode stehen. Drauf gepfiffen!
Oder?