Düsseldorf Wenn die Schule zum Monster wird
Wie sollten sich Eltern verhalten, wenn das Kind Angst vor der Schule hat? Die WZ sprach mit Dr. med. Irina Stöcklin, Leiterin der Kindertagesklinik für Psychosomatik.
Düsseldorf. Felix klagt abends regelmäßig über Bauchschmerzen, sagt immer wieder: „Ich gehe da nicht mehr hin!“ Der Gedanke an die Schule macht ihn wütend, abends findet er nicht in den Schlaf. Morgens streitet er sich mit seiner Mutter, sucht Möglichkeiten, nicht das Haus verlassen zu müssen. Er wirkt blass und bedrückt. Felix hat Schulangst — eine Angst, die keinesfalls verharmlost werden sollte, sagt Dr. med. Irina Stöcklin, Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie am Evangelischen Krankenhaus.
Frau Dr. Stöcklin, was versteht man unter Schulangst?
Stöcklin: Von Schulangst spricht man, wenn der Schulbesuch oder schon der Gedanke an einen bevorstehenden Schulbesuch körperliche und psychische Beschwerden beim Kind oder Jugendlichen hervorruft.
Wie erkennt man den Unterschied zwischen einer Unlust oder einem kurzfristigen Unwohlsein — beispielsweise bei einer bevorstehenden Mathearbeit — und echter Schulangst?
Stöcklin: Für Eltern ist diese Abgrenzung oft schwierig. Dazu müssen Ausprägung und Verlauf der Beschwerden beobachtet werden: Ist es eine einmalige Reaktion, weil eine Arbeit ansteht? Oder verfestigt sich das Muster, ist das Kind auch schon am Sonntagabend traurig und klagt über Schmerzen, weil Montag Mathe auf dem Stundenplan steht? Hat es dann Probleme, in den Schlaf zu finden, oder morgens aufzustehen, sich für die Schule fertig zu machen? Ist es auch im Laufe der Woche bedrückt und am Freitag nach der Schule mit Aussicht aufs Wochenende gelöst? Dann könnte es sich um Schulangst handeln, die Eltern erstnehmen sollten.
Wie sollte darauf reagiert werden?
Stöcklin: Wichtig ist, mehr über den Schulalltag herauszufinden: Wie kommt das Kind mit dem Stoff, mit den Lehrern klar? Wie ist es in den Klassenverband integriert, wie verhält es sich auf dem Pausenhof, wie bei Ausflügen? Steht es allein, wird es vielleicht sogar von den anderen Schülern gehänselt oder gar gemobbt? Eltern sollten sich mit den Lehrern darüber unterhalten, sich aber auch bei anderen Eltern umhören, ob deren Kinder vielleicht auch Schwierigkeiten in der Klasse haben. Viele Schulen haben auch einen Schulsozialarbeiter, der hinzugezogen werden kann.
Wie sollten Eltern mit den Beschwerden des Kindes umgehen?
Stöcklin: Die körperlichen Beschwerden, zum Beispiel Kopfschmerzen oder Bauchschmerzen, sollten bei einem Arzt abgeklärt werden. Aber auch dort sollten Eltern offen mit ihrer Sorge umgehen, dass die Beschwerden in Zusammenhang mit der Schule stehen könnten. Mit dem Kinderarzt kann beraten werden, ob es Hinweise auf psychische Belastungsfaktoren gibt.
Wie geht es dann weiter? Wo gibt es Hilfe?
Stöcklin: Der nächste Schritt kann je nach Ausprägung eine ambulante Diagnostik und gegebenenfalls Behandlung sein, die an einer Beratungsstelle oder bei einem Kinder-/Jugendpsychiater und Psychotherapeuten durchgeführt werden kann.
Falls sich die Ängste schon stark verfestigt haben, körperliche und psychische Beschwerden dauerhaft auftreten, der Schulbesuch trotz ambulanter Therapie fortgesetzt vermieden wird, kommt gegebenenfalls eine tagesklinische oder vollstationäre Maßnahme in Frage.
Was sind die Gründe für Ängste in Zusammenhang mit Schule?
Stöcklin: Die Auslöser für Schulangst sind unterschiedlich. Schulbezogene Ängste können entstehen, wenn es Probleme mit Mitschülern oder einem Lehrer gibt. Aber auch Ängste vor Leistungsversagen oder auch Überforderung mit dem Schulstoff können eine Rolle spielen; für andere stehen eher soziale Ängste, die mit der Sorge vor Kritik und Bewertung durch die Mitschüler einhergehen, im Vordergrund. Abzugrenzen von den schulbezogenen Ängsten sind bei Kindern und Jugendlichen übermäßig ausgeprägte Ängste vor Trennung von den Eltern, die ebenfalls häufig zur Verweigerung des Schulbesuch führen.
Wozu kann Schulangst im schlimmsten Fall führen?
Stöcklin: Die Ängste können sich verfestigen. Die Angst und die einhergehenden Beschwerden werden so stark, dass es um den Schulbesuch immer mehr Auseinandersetzungen gibt, die Fehlzeiten nehmen zu, u.U. wird der Schulbesuch dauerhaft vermieden. Das kann dazu führen, dass das Kind den Kontakt zu Mitschülern und Leistungsinhalten verliert und die Tagesstruktur einbüßt, was häufig wiederum mit sozialem Rückzug und depressiver Verstimmung einhergeht. Gerade am Anfang ist für Eltern wichtig zu wissen: Sie tun Kindern keinen Gefallen, dem Vermeidungsverhalten nachzugeben und das Kind zu Hause zu lassen. Dadurch wird sich die Angst eher weiter verfestigen. Wenn möglich, soll das Kind ermutigt werden, sich den angstauslösenden Faktoren zu stellen. Gemeinsam sollte überlegt werden, wie Belastungsfaktoren abgebaut werden und Erfolgserlebnisse im Schulalltag entstehen können.
Wie relevant ist das Thema Schulangst?
Stöcklin: Wir glauben, dass Schulangst ein sehr wichtiges Thema ist. Man geht davon aus, dass jeder fünfte Schüler mit Schulangst zu tun hat. Auch bei den Anfragen in der Tagesklinik sieht man es deutlich, denn ein großer Anteil hat mit Schulproblemen, -ängsten oder Schulverweigerung zu tun. Sowohl der Schuleintritt, als auch der Wechsel auf die höhere Schule sind wichtige, durchaus auch kritische Übergänge.
Hat das Thema an Bedeutung gewonnen?
Stöcklin: Ich glaube, die Fokussierung auf eine erfolgreiche Schulbewältigung ist stärker geworden, auf gute Noten, gute Zeugnisse, einen guten Abschluss.
Wie erklären Sie sich das?
Stöcklin: Durch die Verkürzung der gymnasialen Oberstufe ist der Druck zusätzlich erhöht worden. Aber auch der Übergang von der Grundschule auf die weiterführende Schule wird von Familien problematisch erlebt. Oft geht es darum, unbedingt die gymnasiale Empfehlung zu bekommen — der Druck für das Kind ist enorm, wie auch für die Eltern, ihrem Kind das Beste ermöglichen zu wollen. Neben dem Leistungsaspekt bleibt Schule allerdings vor allem auch eine soziale Herausforderung; es gelingt Kindern und Jugendlichen leider nicht immer leicht, ihre Rolle zu finden und in der Gruppe klarzukommen. Hier benötigen sie Hilfe von den Eltern, und manchmal eben auch von Fachleuten.