Kolumne Wie die WDR-Radio-Legende Mal Sondock die Popkultur prägte

Düsseldorf · Vor zehn Jahren starb die WDR-Radio-Legende Mal Sondock. Bis Mitte der 80er-Jahre prägte er weit über NRW hinaus die Popkultur in Deutschland – und eröffnete nebenbei in Düsseldorf ein texanisches Steakhaus. Unser Autor erinnert sich.

Mal Sondock in seinen späten Jahren: Er hat mehrere Radiohörer-Generationen geprägt – auch über NRW hinaus. 

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Der erste Teil meiner Mal-Sondock-Jugend beginnt 1981. Stets das gleiche Ritual: Mittwochsabends ab kurz nach acht bin ich für eine knappe Stunde nicht ansprechbar, und meine Eltern haben striktes Kinderzimmer-Verbot. Ich habe nur eines im Sinn – im richtigen Moment die „Play“- und die „Rec“-Taste an meiner Uher-Compact-Anlage gleichzeitig zu drücken, um aktuelle Songs auf Kassette mitzuschneiden (später verfeinere ich meine Aufnahmetechnik und arbeite mit der Pause-Taste). Akribisch notiere ich die Namen der Interpreten plus Songtitel auf den Hüllen der C90-Kassetten. So entsteht etwa alle zwei Monate eine neue Hit-Zusammenstellung. Für Jäger und Sammler wie mich ist „Mal Sondocks Hitparade“ auf WDR2 definitiv die vielversprechendste Adresse. Jede Woche schicken die Hörer eine Postkarte mit ihrem Lieblingssong an den WDR in „5000 Köln 100“. Zehn Auserwählte gewinnen eine Langspielplatte nach Wahl, und einige werden sogar live zu Mal in die Sendung durchgestellt: Die „Telefontipper“ müssen dann sagen, ob die von Mal präsentierten Single-Neuvorstellungen ein „Hit“ oder eine „Niete“ werden. „Hit“ bedeutet, dass es der Song in die „Super 12“ der Hörerhitparade schafft.

Mal-Sondock-Fans wie ich wissen, dass bei den Plätzen 12 bis 6 mitschneidemäßig nichts zu holen ist, die Titel werden nur angespielt. Erst bei den Plätzen 5 bis 1 wird es spannend, denn die sind in kompletter Länge zu hören. Vor dem Höhepunkt jeder Sendung, dem Hit Nummer 1, spult Mal noch einmal seine „super-aktuellen Super 12“ im Schnelldurchlauf ab. Wäre ich eine neue Band oder ein neuer Sänger, so würde ich mir wünschen, dass Mal einen meiner Songs als „Neuvorstellung“ präsentiert. Wenn man das schafft und dann auch noch in Mals Hitparade einsteigt, ist man schon fast berühmt, zumindest in Deutschland. Und das obwohl die Sendung auf UKW nur in Nordrhein-Westfalen und Umgebung zu hören ist.

Mal Sondocks Hitparade fegt Teenager so zuverlässig von der Straße wie „Wetten Dass..?“ die gesamte Familie vor den Fernseher lockt. Mal, der Mann mit dem amerikanischen Akzent, spielt als erster die kommenden Chartbreaker, manchmal sogar als Europa- oder gar Weltpremiere. Natürlich hat er auch die Songs von Shakin´ Stevens, den ich – mein erstes Konzert überhaupt – 1982 in der Philipshalle live sehe, im Programm (siehe Kolumne Nr. 4 vom Oktober 2018). Zu dieser Zeit bin ich längst dabei, vom Shakin-Stevens-Lager unauffällig ins Kim-Wilde-Lager zu wechseln. Synthiepop statt Rock´n Roll. In Mals Sendung habe ich die Songs „Cambodia“ und „View from a Bridge“ erbeutet. Ich glaube, Kim Wilde ist doch irgendwie cooler als Shakin´ Stevens. Beim Mitschneiden der Kim-Wilde-Songs ist Mals Stimme mit auf dem Mix-Tape gelandet, weil er – Amerikaner und Engländer machen das so – gerne in die Songs hineinquatscht. Aber das stört mich nicht, denn Mal Sondock ist quasi genau so cool wie Kim Wilde, und ich mag seine Stimme.

Mal klingt anders als alle deutschen Radiomoderatoren, die ich kenne – und das liegt nicht nur an seinem unverwechselbaren Ami-Akzent. Er versprüht eine ehrlich-positive Energie, die seine deutschen Kollegen so gut wie nie hinbekommen, und er kann über sich selbst lachen. Regelmäßig macht er sich über sein Deutsch lustig und sagt Sätze, die sonst keiner sagt. Zum Beispiel: „Und weider geht’s mit Sounds abounds!“ Zu Beginn jeder Sendung stellt er sich als „euer Discjockey Em-Ej-El“ vor, und dass ich ihn mit Vornamen bezeichne, ist kein Zufall. Er ist wie ein guter Kumpel mit direktem Draht zu den Stars, und in Sachen Wiedererkennungswert kann ihm allenfalls Elmar Hörig von SWF3 das Wasser reichen. Mal Sondock spielt die Hits der Stars – und ist selbst ein Star.

In dieser frühen Teenager-Zeit höre ich extrem viel Radio: Tagsüber tatsächlich meistens SWF3 auf 94,8 Megaherz, das man auch in Düsseldorf gut empfangen kann. Oft schalte ich auf 96,5 den britischen Soldatensender BFBS ein – denn die britischen Top40 sind Pflicht. Gelegentlich höre ich auch Radio Luxemburg: Die haben zwar in Oberkassel ein eigenes Studio, sind aber trotzdem nur auf 1440 Kiloherz Mittelwelle zu empfangen. Es werden gerne Schlager gespielt, und es läuft viel Werbung. Dann lieber Mal Sondock – und die Schlagerrallye. Die Schlagerrallye ist die zweite WDR2-Hitparade, die auf Hörer-Postkarten basiert. Sie läuft montagabends, und oft blockieren Titel wie „Kristallnaach“ von BAP oder „Moonlight Shadow“ von Mike Oldfield monatelang Platz eins. Anders als der Name vermuten lässt, ist die Schlagerrallye nämlich überhaupt keine Schlagersendung, was aber nicht mal ironisch gemeint zu sein scheint. Total unlogisch und bescheuert so was. Mangels Alternativen bin ich trotzdem Stammhörer, schreibe Postkarten, und einmal gewinne ich sogar eine LP und werde am nächsten Tag in der Schule darauf angesprochen, weil mein Name im Radio vorgelesen worden ist. Ich hätte natürlich viel lieber bei Mal Sondock gewonnen. Merkwürdig, aber eigentlich weiß ich gar nichts über ihn, habe keine Ahnung, wie alt er ist und wie er aussieht. Im Radio hört er sich ziemlich jung an.

Berühmte Künstler nehmen für ihn Weihnachtsgrüße auf

Mein Radio-Idol Mal Sondock schafft etwas, das zumindest beim WDR kein anderer schafft: Berühmte Künstler nehmen für ihn und seine Hörer Weihnachtsgrüße auf. Meistens beginnen sie mit „Hi Mal! This is …“. Dabei lernt man zum Beispiel, wie Depeche Mode, die ich seit „Everything Counts“ super finde, ihren Bandnamen aussprechen – nämlich mit einer Betonung auf dem letzten „e“ bei Depeche. Und man hört Nena, wie sie sagt: „Tja Schnuckis, die Kerzen brennen, der Braten ist im Ofen, ich wünsch euch alles Gute und feiert schön Silvester! Tschüüüüs.“

Ende 1984 läutet eine Schocknachricht das Ende von Teil 1 meiner Mal-Sondock-Jugend ein: Im friedensbewegten Deutschland bin ich, ein 13-Jähriger Mal-Sondock-Fan aus Düsseldorf, kurz davor, dem WDR in Köln den Krieg zu erklären: Die wollen Mal Sondock allen Ernstes rausschmeißen! Weil seine Sendung angeblich nicht mehr zeitgemäß und zu altmodisch ist und nicht mehr genug Hörer hat und das Programm verjüngt werden soll. Schlechte Einschaltquoten? Das kann nur eine Lüge sein. Ich meine: Ich bin jung, und ich kenne kaum jemanden in meinem Alter, der die Sendung nicht hört. Fast schaffe ich es, meine Eltern zu überreden mit mir auf eine „Mal muss bleiben“-Demo auf der Domplatte vor dem WDR-Funkhaus zu gehen. Als Mal Sondock am 19. Dezember 1984 die letzte Ausgabe seiner Hitparade präsentiert und ihm Stars wie Alan Parsons, Freddie Mercury und Billy Ocean zum letzten Mal Weihnachtsgrüße senden, habe ich Tränen in den Augen. Mal erzählt live auf WDR2, dass WDR2 ihn abgesetzt hat und dass er nicht freiwillig geht. Nebenbei erfahre ich, dass er viel älter ist als ich dachte: 50 Jahre. Um 20.58 Uhr spielt Mal zum letzten Mal den „Hit Nummer eins“ seiner „super-aktuellen Super 12“: „Wild Boys“ von Duran Duran – aber hat kaum noch Zeit für den Song, weil er vorher so viel geredet hat. Als er sich verabschiedet, sagt Mal, dass er noch gar nicht weiß, was er nun Mittwoch abends machen soll. Mir geht’s genauso. Noch ahne ich nicht, dass ich Mals Stimme schon bald wieder im Radio hören werde – wenn auch nicht beim WDR.

Als Teenager bin ich oft bei meinen Großeltern im Münsterland zu Besuch. Auf der Suche nach spannenden Sendungen durchforste ich das Radio-Programm in der Hörzu. Hier, nahe der Grenze zu Niedersachsen, kann man neben dem WDR den NDR empfangen. Plötzlich springt mir der Name meines Lieblings-Radiomoderators ins Auge: Auf NDR2 moderiert er einmal in der Woche die Sendung „Hit oder Niete“. Großartig! Damit beginnt der zweite Teil meiner Mal-Sondock-Jugend. So oft ich kann, verfolge ich seine NDR-Sendung, versuche erfolglos, sie in Düsseldorf über Mittelwelle zu empfangen. Doch nach zwei bis drei Jahren ist für Mal offenbar auch beim NDR Schluss.

Zwischendurch gibt es auch abseits der Radio-Front spannende Nachrichten: Mal Sondock hat ein texanisches Restaurant eröffnet. Nicht in Köln, wo er (vermutlich) wohnt und lange Jahre beim WDR moderiert hat, sondern an der Schadowstraße in Düsseldorf, meiner Heimatstadt. Buffalo Mal heißt der Laden, und neben Steaks stehen auch Salate und Eis auf der Speisekarte. Wie man hört, ist Mal oft selbst vor Ort. Klar, dass ich gerne mal vorbeischauen würde. Allerdings: Wir sind keine Steakhaus-Familie, aber immerhin habe ich Steakhaus-Großeltern, die mich zwei bis drei Mal im Jahr zu „Churrasco“ mitnehmen. Soll ich sie fragen? Ich liebe meine Düsseldorfer Großeltern, aber sie sind steinalt und CDU-Wähler, die noch nie in ihrem Leben eine Jeans getragen haben. Mit denen kann ich mich doch unmöglich im (vermutlich) coolen Steakhaus eines Typen sehen lassen, der offenbar mit Stars wie Depeche Mode und Duran Duran auf Du und Du ist.

Ich bin weiterhin voll im Radiofieber – Kurzwelle, Mittelwelle, Langwelle. Auch auf UKW rüste ich antennenmäßig auf, und so gelingt es mir, belgische Lokalstationen aus der deutschsprachigen Gegend rund um Eupen zu empfangen. Einer von ihnen, ein Privatsender, heißt Radio Fantasy. Ein anderer ist der öffentlich-rechtliche Belgische Rundfunk (BRF). Ich kann es kam glauben, als ich Anfang 1987 herausfinde, dass Mal Sondock mit seiner Sendung „Hit oder Niete“ vom NDR zum BRF umgezogen ist. Fortan ist der Samstagmorgen von 10 bis 12 Uhr fest für Mals Sendung geblockt. „Hit oder Niete“ ist ähnlich strukturiert wie zuvor „Mal Sondocks Hitparade“. Meine Chance: Inzwischen bin ich 16 und traue mich, live in der Sendung anzurufen. Im Laufe des Jahres komme ich an drei Samstagen durch. Es gilt bei einem neuen Song auf „Hit oder Niete“ zu tippen, und wenn man anschließend eine Popmusik-Quizfrage beantwortet, gewinnt man eine aktuelle Hit-Compilation. Etwa „Ronnys Popshow“, „High Life“ oder „Maxi Power“. Die Fragen lauten zum Beispiel: „Bei welcher berühmten Band war Vince Clarke von Erasure früher Mitglied?“ Bei meinen ersten beiden „Hit oder Niete“-Einsätzen weiß ich die Antworten und erweitere meine LP-Sammlung. Mein dritter Anruf verläuft kurios. Kurzer Smalltalk mit Mal Sondock: „Sebastian, von wo rufst du an? (…) Wie ist der Empfang in Düsseldorf? (...) Hit oder Niete? (…)“ Und so weiter. Dann stellt Mal mir die Quiz-Frage. Und erst als er sie bereits vorgelesen hat, und den Frage-Ausdenker nennen will, fällt es ihm und mir auf: Er hat mir soeben meine eigene Frage gestellt. Es gibt nämlich noch eine andere Art zu gewinnen. Man denkt sich Popmusik-Quizfragen für die Hörer aus, und wenn Mal sie in der Sendung benutzt, bekommt man eine Platte geschenkt. Mal Sondock rettet die Situation durch seine lockere Art – und schickt mir die anschließend eine Doppel-LP-Compilation: „Sommer Smash Hits“.

Schnitt. Im Juni 2009 stirbt Mal Sondock nach kurzer schwerer Krankheit im Alter von 74 Jahren. Nach seiner BRF-Zeit habe ich ihn nie wieder im Radio gehört, aber immerhin in den Neunzigern mehrmals als Präsentator von „Mals Bordradio“, wenn ich mit der LTU geflogen bin. Erst durch das Lesen der Nachrufe wird mir bewusst, dass mein Lieblingsmoderator bereits für drei bis vier Generationen vor mir popkulturelle Entwicklungshilfe geleistet hat. Ich erfahre, dass Mal Sondock in Houston, Texas, geboren wurde, 1957 als GI nach Deutschland kam, dort zunächst beim US-Soldatensender AFN arbeitete und schließlich als Urlaubsvertretung des Briten Chris Howland beim WDR anheuerte. Ich erfahre, dass er als Erfinder der Diskothek in Deutschland gilt und der erste war, der bei Tanzveranstaltungen live Schallplatten auflegte. Und ich erfahre, dass es zu „Mal Sondocks Hitparade“ bereits ab 1967 eine Vorgängershow namens „Diskothek im WDR“ gab, die live vor Publikum gesendet wurde. Endlich verstehe ich auch den Witz, den Mal Sondock gelegentlich in seinen Sendungen brachte: „Erkältungen erinnern mich immer an meine alte Heimat: Husten, Texas.“

Heute, zehn Jahre nach dem Tod von Mal Sondock, kann man sich dank des Internets diverse Sendungen anhören. Eine kleine Zeitreise: Die blecherne Stimme von Mals „Assistenten“ Rudi Roboter, die Statistiken der ehrenamtlichen Mitarbeiter Heinz und Klaus, die Gespräche mit Telefontippern wie Jutta, 15, aus Meschede oder aus Thomas, 13, aus Duisburg, die Audio-Grüße der Stars. Klar, Mal Sondocks Hitparade war eine Mainstreamsendung. Doch dafür hatte sie immer wieder erstaunlich progressive Momente: So stand zum Beispiel „Ein Jahr (Es geht voran)“ von der Düsseldorfer Band Fehlfarben 1982 bei Mal wochenlang in den Top5. Und auch die Düsseldorfer Kollegen der Band Nichts kletterten im gleichen Jahr mit „Licht aus“ in Mal Sondocks Hitparade viel höher als in den offiziellen Verkaufscharts.

Gerade bei den Neuvorstellungen war Mal Sondock immer für Überraschungen gut: Einmal spielte er eine Solo-Single von Michael Rother, der in den 70ern Mitglied bei den Krautrock-Ikonen von NEU! und Harmonia gewesen war und von dem ich als 80er-Jahre-Kassettenkind noch nie etwas gehört hatte. Doch weil der Musikkenner Mal voller Respekt von ihm sprach, blieb mir der Name in Erinnerung. Als schrägste aller Neuvorstellungen erinnere ich einen Song mit dem Refrain „Ja, is‘ ja alles supergut, ne?“, beim dem Dieter-Thomas Heck vermutlich einen Herzinfarkt bekommen hätte. Dank YouTube weiß ich nun: Der Titel heißt – welch Überraschung – „Supergut, ne“ und stammt von Arno Steffen.

Ach ja, sein Steakhaus „Buffalo Mal“ an der Schadowstraße musste Mal Sondock nach kurzer Zeit wieder aufgeben. Es lief nicht so gut wie erhofft. Und auch wenn er als Gastronom gescheitert ist – als Radiomoderator ist Mal Sondock eine Legende. Seine Sendungen waren Oasen in der tristen Radio-Wüste des Eduard-Zimmermann-Deutschlands. Malcolm Ronald „Mal“ Sondock, der jüdische Amerikaner und einflussreichste deutsche Radiomoderator aller Zeiten, hat die Bundesrepublik ein Stück lockerer und lässiger gemacht. Begraben ist er in den USA, seiner ersten Heimat. Auf seinem Grabstein in Florida ist eine Referenz an seine zweite Heimat zu lesen: „Voice to generations of european music fans.“