„Wir müssten vier Hände haben“

Simona Winckler liebt ihren Beruf. Doch in Düsseldorf fehlen hunderte Altenpfleger.

Düsseldorf. Es scheint, als habe der liebe Gott sie vergessen. Frau Berger (alle Bewohnernamen geändert), der Simona Winckler so vorsichtig über den Kopf streicht, als sei er aus Glas, ist weit über 90 und liegt seit zwanzig Jahren im Bett. Ob sie die Streicheleinheiten bemerkt, weiß Winckler nicht. Aber sie hört nicht damit auf. Auch das markerschütternde Dauerpiepsen des Anwesenheitsmelders an der Wand kann die Pflegerin nicht aus der Ruhe bringen. „Den muss ich in jedem Zimmer drücken. Er piepst, wenn andere Bewohner mich über ihren Drücker rufen“, sagt Winckler.

Schwester Simona, wie hier alle sagen, ist Krankenpflegehelferin und kümmert sich seit 25 Jahren um die Bewohner des Altenheims am Kaiserswerther Markt. „Ich kann mir nicht vorstellen, jemals etwas anderes zu tun“, sagt sie. Doch ihr Beruf steckt in der Krise. Die Menschen werden immer älter, und es gibt nicht genug Pflegefachkräfte. Etwa 360 Kranken- und Altenpfleger fehlen aktuell in Düsseldorfer Einrichtungen — Tendenz steigend.

Seit sie um 6.30 Uhr den Stationsdienst von der Nachtschicht übernommen hat, piepst es nun in Wincklers Ohren. 43 Bewohner wollen von einer examinierten Krankenpflegerin, drei Krankenpflegehelferinnen und einem Azubi versorgt werden. Da die einzige examinierte Fachkraft der Station für eine Fortbildung im Haus unterwegs ist, kommen auf die drei Pflegerinnen und den Azubi heute jeweils mehr als zehn alte Frauen und Männer.

Winckler macht ihre Morgenrunde. Hinter jeder Tür eine neue Lebensgeschichte — hinter jeder Tür das Piepsen. Die 59-Jährige kennt ihre Wohngruppe: Hier wohnt Herr Dreher. Er ist 91, hat mit der Handelsmarine alle Weltmeere befahren und war Ingenieur bei Mercedes. „Er ist erst seit zwei Monaten hier“, sagt Simona und schnappt sich den Waschlappen.

Alte Männer und Frauen im Intimbereich zu waschen, macht ihr nichts aus. „Man muss dem Bewohner nur genau sagen, was man macht“. Dann ist es kein Problem“, sagt Simona, die energisch zupackt und Herrn Dreher den Schlafanzug auszieht. „Nur das Rasieren, das lerne ich, glaube ich, nie.“

Simona Winckler, Pflegerin

Viele potenzielle Pfleger werden von der Intimität des Berufs und der Nähe zum Tod abgeschreckt. Zudem gilt der Job als schlechtbezahlt, etwas für Frauen ohne Karrierechancen. Das macht es nicht leichter, Nachwuchs zu rekrutieren. Marianne Dierks, Leiterin des Bereichs Bildung und Erziehung bei der Kaiserswerther Diakonie, will mit Pfleger-Vorurteilen aufräumen: „Das Einstiegsgehalt liegt bei 2200 Euro brutto. Man kann zum Heimleiter, Pflegelehrer, Experten für bestimmte Krankheiten und ins Qualitätsmanagement aufsteigen.“ Außerdem seien immerhin ein Viertel der Pflegeschüler Männer.

Das Piepsen ist verstummt. Gegen 10.30 Uhr hat Schwester Simona zehn Bewohner geweckt, gewaschen, angezogen, ihnen die Windeln gewechselt und sie mit Frühstück versorgt. Jetzt ist sie selbst an der Reihe: Im Pausenraum ist Zeit für ein Brötchen, eine Tasse Kaffee und ein Gespräch. Simona Winckler war in ihrer philippinischen Heimat Hebamme. In Deutschland wurde sie nur als Krankenpflegehelferin anerkannt. Sie landete in der Altenpflege, aber das macht ihr nichts aus: „Altenpflege ist mir das Liebste. Von den Bewohnern bekommt man alles, was man gibt zurück — mit Zinseszins.“ Anderen zu helfen ist die Berufung der gläubigen Christin.

Die Anwesenheitsmelder piepsen wieder. Frau Becker braucht eine Dusche. Die alte Frau liegt in einem kargen Zimmer. Aus dem Radio dudelt ein Schlager, es riecht nach Urin. Schwester Simona berührt sie sanft an der Schulter und sagt: „Ich helfe Ihnen jetzt aus dem Bett und dann gehen wir duschen, ok?“ Frau Becker schweigt. Auf dem Weg zur Dusche verliert sie Kot, Schwester Simona wischt das Malheur auf. „Das ist normal bei Bettlägerigen. Sie führen oft ab, wenn man sie bewegt.“ Simona stellt das Wasser für Frau Becker an und bezieht das Bett frisch. „Sie bekommt wenig Besuch“, sagt die Pflegerin und klingt traurig. Glücklich dagegen schaut Frau Becker als sie frisch geduscht und eingecremt wieder im Bett liegt. Schwester Simona muss weiter. 11.30 Uhr es gibt Mittagessen für die Bewohner.

Es piepst zwei Zimmer weiter. Winckler versorgt gerade das offene Bein eines 91-Jährigen, da schallt es aus dem Speisesaal: „Schwester Simona!“ Herr Dreher muss auf die Toilette, und im Alleingang könnte das mit einem Sturz enden. Eine andere Bewohnerin fragt: „Schwester, wann kommen Sie denn endlich zu mir?“ „In zehn Minuten“, sagt Simona. „Und dann dauert es wieder eine Stunde“, bellt die Frau zurück. Simona lächelt die Bemerkung weg.

Der Pflegermangel spiegelt sich in der Stimmung bei Personal und Pflegebedürftigen wider. Wenn es stressig wird oder ein Senior auf Streit aus ist, geht Winckler einfach vor die Tür, atmet tief durch und probiert es dann noch einmal mit Engelsgeduld. Früher, da sei alles noch entspannter gewesen: Es gab Ausflüge mit den Bewohnern, mehr Personal und sogar einen Stationsarzt. Heute beschränkt sich die Pflege auf Körperhygiene und Nahrungsaufnahme.

Letztere haben die meisten Bewohner gerade abgeschlossen. Sie möchten zurück in ihre Zimmer und auf die Toilette. Um 12.15 Uhr beginnt Schwester Simonas letzte Runde. Das letzte Mal Piepsen für heute.

Das Zimmer von Ruth Mannebach ist mit ein paar privaten Möbeln genau so eingerichtet, wie man sich ein Großmütterchen-Wohnzimmer vorstellt. Und die Idylle wäre perfekt, hinge am Fernsehsessel nicht der Urinbeutel. „Die Pfleger hier sind toll, und Simona ist mein Goldstück — nur leider völlig überlastet“, sagt die 88-Jährige. Schwester Simona schmunzelt verlegen. Ein paar Sekunden später steht sie auf dem langen Flur, bläst die Wangen auf und fragt sich: „Habe ich alle?“

Um 12.58 Uhr verabschiedet Schwester Simona sich bei Frau Lahmann. Den Anwesenheitsknopf ignoriert sie diesmal. „Ab morgen habe ich Urlaub“, sagt die Pflegerin laut und langsam. Frau Lahmann sinkt ein paar Zentimeter tiefer in die Kissen, als wolle sie der Nachricht ausweichen. Dann sagt sie: „Ich werde für Sie beten.“

Winckler geht ins Pflegebüro. Feierabend hat sie noch nicht: Jetzt muss jedes Pflaster, jede Wäsche und jeder Tropfen Creme dokumentiert werden. Für die Heimaufsicht gilt nur als erledigt, was auch aufgeschrieben wurde. „Eigentlich müssten wir vier Hände haben“, sagt Schwester Simona, bevor die Tür des Büros hinter ihr zu fällt.