Zahn um Zahn – seit 100 Jahren
Geschichte: Im Juli 1910 gründete die AOK eine Zahnklinik an der Kasernenstraße. Was heute wie Handwerk anmutet, war damals moderne Medizin.
Düsseldorf. Am Morgen des 1. Juli 1910, es ist ein Freitag, ein recht schöner Sommertag, schlüpft Dr. Paul Karl Friedrich Reich in seinen weißen Kittel, schaut sich noch einmal in seinem nagelneuen Behandlungszimmer um und sagt zu seiner Assistentin: "Der Nächste, bitte". Wer sein erster Patient ist, weiß heute niemand mehr, auch nicht, welche medizinische Prozedur Dr. Reich dem fremden Gebiss angedeihen ließ.
Vermutlich dürfte sie allerdings unangenehm bis schmerzhaft gewesen sein. Im Wesentlichen bestand die Zahnheilkunde zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus dem Dental-Dreiklang bohren, plombieren und ziehen. Dr. Reich als Leiter der neu gegründeten Zahnklinik gönnte sich sogar einen eigenes Extraktionszimmer -, das aus heutiger Perspektive allerdings eher an eine Werkstatt denn an eine Zahnarztpraxis erinnert. Noch handwerklicher ging es bei den beiden Kollegen Reichs zur Sache. Sie behandelten ihre Patienten in einem großen Saal, Behandlungsstuhl neben Behandlungsstuhl. Zahn um Zahn.
Dennoch war das "Zahnärztliche Institut der Gemeinsamen Ortskrankenkassen" ein Meilenstein für Düsseldorf. Viele Einwohner, zumal die ärmeren, hatten keine Chance auf eine vernünftige Zahnbehandlung. Lediglich ein paar tausend Zahnärzte gab es im ganzen Deutschen Reich. Fürs Grobe waren so genannte Dentisten zuständig, die ohne akademische Ausbildung in Mundwerken fuhrwerkten.
Die Einrichtung war ein Erfolg. Ein halbes Jahr nach der Eröffnung der Krankenkassen-Zahnklinik wurde der 10000 Patient behandelt. Was wohl auch und vor allem an einer Entscheidung des Krankenkassen-Vorstands lag. "Es soll Plomben kostenlos geben", beschied er kurz vor Eröffnung der Klinik. Mit einer Einschränkung freilich: "Natürlich keine Goldplomben." Die Füllung für löchrige Kauleisten rührten die Ärzte selbst an, Zahnmedizin war Handarbeit. Elektrische Geräte gab es noch nicht, stattdessen brachte schiere Muskelkraft die Tretbohrer zum Rotieren. Ein fußkranker Arzt war praktisch eine Garantie für Schmerzen.
Weniger anstrengend und in den meisten Fällen auch weniger schmerzvoll geht es ein Jahrhundert nach Gründung der Klinik an der Kasernenstraße zu. Das Haus gehört immer noch zur AOK (vor 100 Jahren hieß sie Gemeinsame Ortskrankenkasse), und ist eine von fünf Zahnkliniken in Deutschland, die in Trägerschaft einer Krankenkasse verblieben sind. Dazu ist sie die größte. Mehr als 10000 Patienten werden dort je Jahr behandelt.
Für Volker Schreiber, stellvertretender Regionalleiter der AOK, liegen die Vorteile einer eigenen Zahnklinik auf der Hand und beim Patienten. "Bei uns sind alle Spezialisten unter einem Dach, die Wege sind kurz, und Patienten brauchen keine Überweisung mehr zu anderen Spezialisten."
Gefeiert wird der 100. Geburtstag übrigens am Sonntag, 19. September, beim Hohe Straße-Fest. Gebohrt wird aber nicht.