Die andere Seite Russlands

Plattenbauten und Betonwüsten prägen das Bild von Krefelds Partnerstadt an der Wolga. Die Spuren Lenins, ihres berühmtesten Sohnes, sind allgegenwärtig.

Krefeld/Uljanowsk. Wenigen Menschen sagt der Name Wladimir Iljitsch Uljanow etwas, dabei hat er das 20. Jahrhundert geprägt wie kaum ein anderer. Doch bei seinem Kampfnamen Lenin sollte bei den meisten der Groschen fallen.

Lenins Geburtsstadt ist Uljanowsk, eine russische Großstadt an der Wolga und Partnerstadt von Krefeld. Bis 1924 trug Uljanowsk noch den Namen Simbirsk. Umbenannt wurde die Stadt zu Ehren ihres berühmtesten Sohnes. "Seine Spuren findet man überall und auch sein Vater war ein ganz bekannter Pädagoge", sagt die Krefelderin Ute Stettien, die im Oktober mit einer Göttinger Reisegruppe an die Wolga gereist ist, um die evangelisch-lutheranische Kirchengemeinde St. Maria zu besuchen. "Die Familie hatte sechs Kinder und ist nach jedem Kind umgezogen. Und fast jedes dieser Häuser ist heute ein kleines Museum." Zusätzlich erinnern ein imposantes Mahnmal, ein großes Museum und ein Kulturzentrum an den Revolutionsführer.

Lenin ist es zu verdanken, dass die Kirche St. Maria nicht wie viele andere Gotteshäuser nach der Revolution dem Erdboden gleichgemacht wurde. "Seine Mutter war Russland-Deutsche, evangelisch und hat im Kirchenchor St. Maria gesungen", berichtet die 69-Jährige. "Vermutlich hat er dieses Gebäude aus Nostalgiegründen verschont."

Mehr als 600.000 Menschen leben in Uljanowsk. "Der Sozialismus hat überall seine architektonischen Spuren hinterlassen", sagt die ehemalige Leiterin der Grundschule an Haus Rath. Plattenbauten und Betonwüsten prägen das Stadtbild. "Seinen Balkon gestaltet jeder, wie er will. Bauvorschriften oder gar einheitliches Aussehen sind nebensächlich."

Stettien, die seit ihrer Pensionierung Russisch lernt und 2008 St. Petersburg besuchte, findet: "In St. Petersburg sieht man ein schönes, glattes Russland, es ist eine Vorzeigestadt. In Uljanowsk habe ich eine andere Seite des Landes kennengelernt: Die Bürgersteige sind voller Löcher, dementsprechend sieht man zum Beispiel keinen älteren Menschen mit Rollator."

Erstaunt war sie über die zweite Wolga-Brücke, die nach 22 Jahren Bauzeit im Oktober 2009 endlich eröffnet wurde. "Das ist typisch russisch: Niemand hat daran geglaubt, dass sie noch einmal fertig wird, aber trotzdem haben das alle gelassen genommen." Und Uljanowsk hat auch schöne Ecken: "Die historischen Straßenzüge mit den alten, bunten Holzhäusern sind besonders sehenswert."

Während ihres Besuchs hatte Stettien viele interessante Begegnungen. "Die Menschen sind sehr hilfsbereit und äußerst gastfreundlich", erinnert sie sich mit einem Lächeln. "Nur leider weiß kaum einer, dass Krefeld Partnerstadt ist. Die Partnerschaft sollte wieder lebendiger werden."

Besonders in Erinnerung ist ihr eine Situation geblieben: Während eines Ausflugs hat Stettien beobachtet, wie ein gebrechlicher 80-jähriger Russe mit einem gleichaltrigen Deutschen "Hand in Hand über eine Brücke der Sonne entgegenging". Beide waren als Soldaten während des Zweiten Weltkriegs an der russischen Front stationiert - und waren dementsprechend Feinde. "Dieses Bild der gelebten Völkerverständigung hat mich zu Tränen gerührt. Alleine für diesen Augenblick hat sich die lange Reise gelohnt."