Ein Leben auf der Straße steht am Ende des Abstiegs
Im Beratungszentrum an der Lutherstraße finden Obdachlose nicht nur ein Bett, sondern auch praktische Lebenshilfe. Ein Betroffener erzählt.
Krefeld. Erst wenn sie ganz unten sind, kommen sie. Der Weg in das Beratungszentrum für Obdachlose der Diakonie an der Lutherstraße ist für viele weit. „Es ist das Ergebnis eines schwierigen Prozesses“, sagt der Leiter der Einrichtung, Andreas Scholtyssek.
Auch bei Gerd Naumann war es so. Der 56-Jährige ist seit dreieinhalb Jahren wohnungslos. „Zuerst war ich nicht ehrlich zu mir selbst“, sagt er. Wollte sich nicht eingestehen, dass er seine Probleme alleine nicht in den Griff bekommt.
Er arbeitete selbständig als Trockenbauer und Bodenleger. Als er mehrere Monate keine Aufträge bekommt, häufen sich die Schulden, etwa für die Krankenkasse. Irgendwann kann er die Miete nicht mehr bezahlen: „ . . . und kam dann die Straße“, sagt Naumann.
Die erste Zeit lebt er draußen, schläft vor allem am Südausgang des Hauptbahnhofs. „An der Lutherstraße bin ich gelandet, als man mich am Bahnhof fast tot geprügelt hat“, sagt er. Naumann wird mit einer Bierflasche attackiert. Im Krankenhaus erfährt er von der Beratungsstelle an der Lutherstraße.
Gerade jetzt hat die Beratungsstelle mit ihren mehr als 40 Schlafstellen nachts Hochsaison. „Im Winter sind wir deutlich besser ausgelastet als im Sommer“, sagt die Diplom-Sozialpädagogin Iris Hilsenitz. Im Juni und Juli nutzten im vergangenen Jahr etwa 500 bis 600 Wohnungslose im Monat die Schlafräume. In der kalten Jahreszeit stieg die Zahl auf monatlich mehr als 900 Übernachtungen an.
„Wenn es kalt ist, friert man sich den Arsch ab“, stellt Gerd Naumann nüchtern fest. „Ich kenne das aber nicht so. Bei mir war das nie ein permanenter Zustand.“ Naumann nutzt die Schlafmöglichkeiten der Diakonie mit Unterbrechungen dauerhaft.
Aber nicht für jeden Wohnungslosen ist die Beratungsstelle eine Option. „Es gibt Menschen, die es nicht aushalten, in geschlossenen Räumen oder im Schlafsaal zu übernachten. Sie schlafen im Park oder Bahnhof oder in Zelten“, sagt Hilsenitz.
Um diese Menschen kümmert sich unter anderem der Obdachlosenverein Linker Niederrhein, der sich im Juli in Krefeld gegründet hat und in Uerdingen das Sozialkaufhaus betreibt. „Uns liegen die Hardcore-Obdachlosen am Herzen“, sagt Vereinsmitglied Rainer Holzmann.
Als Hardcore-Obdachlose bezeichnet er diejenigen, die immer auf der Straße schlafen, egal bei welchem Wetter. Holzmann ist überzeugt, dass dies der weitaus größere Teil ist. „Das Gros bleibt auf der Straße. Ich denke etwa 60 Prozent.“
Mit der mobilen Suppenküche, die sieben Tage die Woche von 11 bis 20 Uhr unterwegs ist, versorgen die ehrenamtlichen Mitarbeiter diese Obdachlosen mit warmen Getränken und Essen. „Wir verteilen auch dickere Unterlagen und warme Schlafsäcke“, sagt Holzmann. In diesem Winter hat der Verein 1500 Schlafsäcke in Krefeld und Umgebung ausgegeben.
An der Lutherstraße hat man auch die Erfahrung gemacht, dass einige von denen, die lieber permanent auf der Straße leben, sich im Laufe eines Winters doch den Minustemperaturen geschlagen geben. „Wenn es gar nicht mehr geht, kommen sie dann doch zu uns“, sagt Hilsenitz.
Nicht zuletzt auch dann, wenn der Gesundheitszustand nicht mehr mitspielt. „Bei den Wohnungslosen wird aus einem Infekt häufig mal eine Lungenentzündung“, sagt Andreas Scholtyssek. Jahrelange medizinische Unterversorgung oder gar keine ärztlichen Behandlungen führen nicht selten zu schweren Erkrankungen. „Auf der Straße zu leben, bedeutet, deutlich schneller zu altern“, sagt Hilsenitz.
Im Winter ändert die Beratungsstelle daher auch ein wenig ihre Prioritäten, sagt die Diplom-Sozialpädagogin. „Erstes Ziel ist es, das Überleben zu sichern und die Obdachlosen zur Übernachtung hierher zu holen.“
Natürlich bleibt die Beratung der Obdachlosen ein wichtiger Bestandteil der Arbeit. Diese wird hin und wieder auch mit Erfolgserlebnissen gekrönt.
So ist es etwa gelungen, Gerd Naumann eine Wohnung zu vermitteln. „Ich bin bereit“, sagt der 56-Jährige. „Ich war jahrelang verloren, hier hat man mir geholfen, mich wiederzufinden.“