Imbiss-Institution in Krefeld Ein Abschiedsbrief an Frau Split

Krefeld · Nach 40 Jahren verkauft Nevenka Krpan die Imbiss-Institution „Grill Split“. Weil es wegen des Coronavirus keine Abschiedsfeier gibt, hat unser Autor einen Abschiedsbrief geschrieben.

Nevenka Krpan mit Sohn Martin hinter der Verkaufstheke des Grills Split.

Foto: Andreas Endermann

Liebe Frau Krpan,

Sie gehören zu den Menschen, die ich am liebsten sofort duzen möchte. Aber das gehört sich nicht. Sie sind eine Frau von 67 Jahren. Nach vier Jahrzehnten haben Sie den „Grill Split“ an der Breiten Straße verkauft, schon seit Wochen wollte ich deshalb über Sie schreiben. Da ich selbst noch nie Gast bei Ihnen war, wollte ich mich einen Abend hineinsetzen in Ihren Imbiss, dabei zusehen, wie die Leute Cevapcici essen, die Hausplatte Balkan, Grillteller, Koteletts, Bratwürste, Pommes und dazu einen Bauernsalat. Ich wollte begreifen, warum die Leute auch nach so langer Zeit noch zu Ihnen kommen, wo doch so viele andere Imbisse schließen mussten.

Und dann kam Corona. An dem Mittwoch, an dem wir uns trafen, durften Sie nur noch bis 15 Uhr öffnen, der Umsatz war in den Tagen zuvor ohnehin schon eingebrochen, weil die Leute zuhause blieben. Wir wussten noch nicht, dass es Ihr letzter Tag im „Grill Split“ sein würde. Denn schon am Tag darauf durften Restaurants in Krefeld überhaupt nicht mehr öffnen. Eigentlich sollte erst Ende März Schluss sein, Sie hatten eine Feier mit den Stammgästen geplant. Immerhin: Wenn der neue Besitzer den richtigen Pächter findet, wird es den „Grill Split“ weiterhin geben.

Ich betrat am Mittwochmittag also eine Gaststätte, ach sagen wir ruhig Pommesbude, wie ich sie aus meiner Kindheit kenne. Tische und Stühle aus dunklem Holz, in den Regalen standen Fußballpokale, an der Wand hing gerahmt das von allen Spielern unterschriebene Trikot einer Fußballmannschaft mit dem Schriftzug Ihres Grills. Durch eine Tür ging es in den Keller zur Kegelbahn. Ich nehme mal an, Sie hätten sich auch geschminkt, wenn ich keinen Fotografen angekündigt hätte. Das Parfüm wäre fürs Foto auch ziemlich egal gewesen. Wir haben uns an einen der Tische gesetzt, Ihr Sohn Martin kam noch dazu, er arbeitet nebenan als Geschäftsführer eines Software-Unternehmens. Dann haben Sie erzählt. Bitten musste ich Sie nicht.

Der Imbiss Grill Split an der Breite Straße.

Foto: Andreas Endermann

Sie wuchsen in der Nähe von Split auf, damals Jugoslawien, heute Kroatien, besuchten eine Berufsschule für Näherinnen und kamen 1973 mit Ihrem Freund, der noch heute ihr Mann ist, nach Deutschland. Der Plan war, fünf Jahre Geld zu verdienen und dann zurückzukehren. Sie überlegten es sich bald anders. Ihr Mann fing in einem Betrieb für Aufzüge an, Sie arbeiteten in einer Pommesbude an der Rheinstraße. Bis Sie schwanger wurden. Martin kam 1977 auf die Welt. Sie und Ihr Mann hatten bereits gut genug verdient, um ein Haus an der Breiten Straße zu kaufen. Oben zog die Familie ein, unten stellten Sie drei Tische auf und eröffneten 1980 Ihren Imbiss mit den Fleischgerichten, die die Deutschen aus dem Urlaub in Jugoslawien kannten. Bis heute haben Sie nicht viel an der Karte verändert. Der Mann übernahm die Buchhaltung und kümmerte sich um den Ausbau.

Ich habe keinen Moment daran gezweifelt, als Sie sagten, am ersten Tag hätten sie 230 Mark Umsatz gemacht. Der erste Gast war ein kleiner Junge, der heute Professor ist. Auch das möchte ich Ihnen gerne glauben. Ich stelle mir vor, wie der Junge, kaum mit dem Kopf über die Theke ragend, eine kleine Portion Pommes bestellte und Sie ihm gleich einen halben Berg auf den Teller schaufelten.

Urlaub nur im Sommer, frei nur über Weihnachten. Dann freute sich der Sohn, wenn die Familie mal gemeinsam aß. Schon morgens um sieben standen Sie in der Küche, Schluss war erst nach Mitternacht. Wozu der Aufwand? Weil Sie das meiste selbst zubereiten und nicht fertig kaufen wollten. Als ich Sie fragte, wie viel Essen aus der Tiefkühltruhe kommt, sprang Ihr Sohn gleich ein und sagte, nein, nein, das Fleisch sei frisch, und ob ich nicht höre, wie grad in der Küche das Schnitzel gekloppt werde. Auch die Salate werden selbstgemacht. Sogar die Pommes werden frisch geliefert, nicht tiefgefroren. Entschuldigen Sie noch mal. „Muss man aufpassen, dass Essen genießbar ist“, sagten Sie. Die deutsche Sprache haben Sie gelernt, aber Sie waren ja vor allem zum Arbeiten gekommen. Niemals würden Sie etwas verkaufen, was Sie nicht selbst essen würden, sagten Sie. „Portionen sind immer groß.“

Doch ich habe recht schnell verstanden, dass es nicht das Essen allein war, das aus Gästen Stammkunden machte, auf drei Generationen kommt der Laden mittlerweile. Sie haben viel mit den Leuten geredet, „Frau Split“ sagten einige. Sie haben sich ihre Gesichter gemerkt, ihre Lieblingsgerichte. Die besten Geschichten haben Sie mir erzählt. Von dem Mann, der Schaschlik bestellte, und Sie machten ihm die Soße so, wie er sie immer haben wollte, ohne dass er darauf hinweisen musste, und dann sagte er, wissen Sie, wie lange er schon nicht mehr hier gewesen sei? Er wohne seit 14 Jahren in Spanien. Mir gefiel das sehr, als Ihr Sohn sagte: „Wir nennen die Leute nicht beim Namen, sondern den Stammgerichten. Guck mal, da kommt das Wiener Schnitzel.“ Sie berichteten auch von der Frau, die sich über einen anderen Gast, einen Jungen beschwerte, weil der so hoch sprach. Sie könne noch ihr Essen zu Ende essen, haben Sie zu der Frau gesagt, aber dann möge sie bitte gehen. Zwei Jahre später sei die Frau wieder zurückgekehrt. Sie haben zur Seite geguckt und so getan, als hätten Sie sie nicht erkannt.

Doch schon vor Corona lief es nicht mehr so gut wie in den allerbesten Zeiten, als Sie pro Tag 150 Kassenbons ausstellten. Es kamen neue Restaurants mit neuen Spezialitäten. Die Leute essen mittlerweile weniger Fleisch. Man muss sagen, das ist wirklich nichts, wofür der Grill Split steht. Im Internet schrieb mal ein Kunde: „Schnitzel so groß wie ein afrikanisches Elefantenohr.“ Sie haben gar nicht erst versucht, den Trend mitzugehen. Doch da waren auch scheinbare Kleinigkeiten wie die Einführung des Dosenpfands, als die Leute kein Getränk mehr zum Mitnehm-Essen bestellten. Oder große Veränderungen wie der Euro, als die Kunden weniger Geld hatten, weil die Kosten stiegen, aber die Löhne nicht. Weder Sie noch Ihr Sohn sagten das anklagend, Sie sind trotzdem zurechtgekommen.

Außerdem wissen Sie ohnehin, was zählt. Vor 14 Jahren stellten die Ärzte Lungenkrebs fest. Sie haben nie geraucht, die Gäste aber schon. Die Dunstabzugshaube hat den Qualm immer schön in Ihre Richtung gesaugt, und beim Servieren bekamen Sie es sowieso voll ab.

Neun Monate fielen Sie aus. Der Mann dachte schon, er müsste den Imbiss schließen. Es ging bereits das Gerücht herum, Sie seien gestorben. Doch Glück im Unglück, der Krebs streute nicht. Nach der Chemotherapie ließen Sie sich die Haare nicht mehr lang wachsen. Die wollten Sie schon immer kurz tragen, hatten sich aber vorher nie getraut.

Lange wollten Sie schon mehr vom Leben haben, von den Enkelkindern, im Kirchenchor singen Sie ja auch, den Mann sehen Sie quasi nur nachts. „Gerne gehe ich nicht, aber irgendwann muss mal Ende sein.“

Vermutlich wird es Ihnen leichter fallen, als Sie jetzt noch vermuten. Als Sie schon wieder in die Küche gegangen waren, hat mir Ihr Sohn noch erzählt, wie er Sie nach vielen Jahren gedrängt hatte, doch endlich mal wieder Urlaub zu nehmen. Beim ersten Urlaub riefen Sie noch ständig an, um zu fragen, wie es mit der Gaststätte laufe.

Schon wenige Urlaube später musste Ihr Sohn Sie anrufen. Ob Sie denn nicht wenigstens Bescheid sagen wollten, dass Sie gut angekommen sind.

Ich wünsche Ihnen

nur das Beste,

Sebastian Dalkowski