Gastbeitrag von OB Frank Meyer „Der Osten unseres Landes gibt mir manchmal Rätsel auf“

Meinung · Krefelds Oberbürgermeister Frank Meyer blickt als Teil unserer Serie „30 Jahre Mauerfall“ in seinem Gastbeitrag nach Osten.

Frank Meyer ist seit 2015 Oberbürgermeister der Stadt Krefeld.

Foto: Dirk Jochmann

Für meine Generation ist der Fall der Berliner Mauer eine bis heute lebendige gemeinsame Erinnerung. Wir waren damals junge Menschen – und doch haben wir intuitiv verstanden, dass wir Geschichte hautnah miterleben. Wenn ich heute die Augen schließe, sehe ich immer noch die Bilder von feiernden Menschen am Brandenburger Tor und von klapprigen Trabis, die über die Grenze rollen.

Der 9. November 1989 war der Tag, als aus der deutsch-deutschen Teilungsgeschichte wieder eine gesamtdeutsche Erzählung wurde. Es war auch der Tag, an dem die Weltordnung, wie wir sie kannten, auf den Kopf gestellt wurde: Der Eiserne Vorhang fiel, das gefährliche Spiel der Großmächte ging fürs Erste zu Ende. Damals standen die Zeichen auf Neubeginn, der Weg war frei für ein neues Deutschland und ein neues Europa.

Heute scheint es mir, als sei es wieder enger geworden in den Köpfen und Herzen: Der Optimismus ist vielerorts verschwunden, neue Mauern sind entstanden. Die Deutsche Einheit wird nüchtern betrachtet, man könnte auch sagen: ernüchtert. Das gesellschaftliche Klima ist angespannt, und unserer Demokratie tut das nicht gut. Am 80. Jahrestag des feigen Angriffs auf Polen, der die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts auslöste, hat eine Partei im Osten Erfolge gefeiert, deren führende Vertreter den Nationalsozialismus für einen „Vogelschiss“ in der Geschichte halten. Wenige Wochen später erlebten wir mit Entsetzen den terroristischen Angriff auf eine Synagoge in Halle an der Saale.

Der Osten unseres Landes gibt mir manchmal Rätsel auf. In Bautzen fühlt sich die Welt offenbar anders an als in Krefeld, die Biographien und Lebenswirklichkeiten der Menschen dort scheinen sich fundamental von unseren zu unterscheiden. Genau deshalb müssen wir im Gespräch bleiben und einander zuhören. Wir dürfen niemals aufhören, an eine wirkliche Einheit zu glauben und dafür zu arbeiten.

Dabei kann uns der legendäre Ausruf aus Wendezeiten ein Ansporn sein – „Wir sind das Volk!“. Bevor dieser Satz von Pegida ins Gegenteil verkehrt wurde, war er ein Ausdruck von Solidarität und demokratischer Veränderung. Diesen Satz müssen wir uns zurückholen, und wir müssen ihn aktualisieren. Denn ein Volk allein wird die Herausforderungen unserer Zeit nicht bewältigen: Die großen Menschheitsaufgaben unseres Jahrhunderts lassen sich nur in einem starken Europa und mit einer geeinten Weltgemeinschaft lösen. Der Lauf der Geschichte schreibt uns Deutschen dabei eine besondere Verantwortung zu.

Es dürfte – im Osten wie im Westen – nur eine Minderheit sein, die Grenzen und Mauern wiederaufbauen möchte, die Europa aufs Spiel setzen will, die der Bedrohung unserer Lebensgrundlagen gleichgültig oder mit trotziger Ignoranz entgegentritt. Als Demokraten müssen wir uns solchen Meinungen stellen, aber wir dürfen uns nicht davon entmutigen lassen.

Die Umbrüche der Wendejahre sind ein Beleg dafür, was uns Menschen möglich wird, wenn wir zusammenstehen und gemeinsam für eine gute Sache kämpfen. Veränderung geschieht nicht von selbst, Geschichte findet nicht nur in Büchern statt: Wir müssen begreifen, dass wir immer ein Teil davon sind.