Lesung: Der verlorene Zwilling
Literarischer Sommer endet mit Gerbrand Bakker.
Krefeld. Am Anfang steht: "Ich habe Vater nach oben geschafft." Am Ende heißt es: "Ich bin allein." Zwischen diesen kurzen Sätzen liegen die über 300 Seiten des Romans "Oben ist es still" (Suhrkamp), in dem der Niederländer Gerbrand Bakker das Drama eines ungelebten Lebens entfaltet und den Versuch der Befreiung daraus schildert.
Lakonisch ist Bakkers Schreibstil, auf charmante Weise lakonisch gab er sich auch in der Mediothek, in der er seinen Roman vorstellte. Damit endete in Krefeld die Reihe des Literarischen Sommers.
Über seinen 55-jährigen Protagonisten Helmer van Wonderen sagt Bakker: "35 Jahre lang hat er die Kühe gemolken und sich um nichts gekümmert."
Es wurde also Zeit. Denn van Wonderen ist ein Bauer wider Willen, hat den elterlichen Hof nur übernommen, weil vor 35 Jahren der dafür bestimmte Zwillingsbruder Henk starb.
Bakker kokettierte in der Mediothek damit, wenig über seinen eigenen Roman zu wissen: "Das ist ein Buch, von dem mir die Leser erzählen, wovon es handelt."
Einen Schlüsselhinweis gab er dennoch: "Ich glaube, dass es keinen größeren Schmerz gibt, als einen Zwillingsbruder zu verlieren."
In den vorgestellten Passagen wurde deutlich: Van Wonderen hat die Trauer über den Verlust des Bruders nie verarbeitet. Junge Männer in dem Alter, in dem er und sein Bruder waren, als dieser starb, verwirren ihn. Die Verschmelzungsphantasien, die Zwillinge schon einmal haben können, sind noch virulent.
Das wird noch deutlicher als Henk, der Sohn von Henks ehemaliger Verlobter Riet, der aber nicht sein Neffe ist, auf seinen Hof kommt, um dort zu arbeiten. Es knistert zwischen den beiden, doch homoerotische Gründe hat das wohl nur bedingt.
Der greise Vater van Wonderens stirbt im Laufe des Romans, doch wie sein Sohn die Mauern seines seelischen Gefängnisses letztlich überwindet, gab Bakker in der Mediothek nicht preis. Der Autor verstand es durchaus, zur Lektüre seines Werks anzuregen.