Interview Matthias Oelrich: Ein Kindskopf zum Vorlesetag

"Ich bin 73 und muss nicht mehr ferngesteuert auf der Bühne stehen. Lesen tue ich immer noch gerne", sagt der Schauspieler mit mehr als 50 Jahren Bühnenerfahrung im Interview übers Vorlesen.

Foto: Andreas Bischof

Krefeld. „Ich bin 73 und muss nicht mehr ferngesteuert auf der Bühne stehen. Lesen tue ich immer noch gerne“, sagt Matthias Oelrich. Im Theater Krefeld/Mönchengladbach hat er etwa als „Nathan der Weise“ oder Handlungsreisender Loman das Publikum in seinen Bann gezogen. Das Vorlesen ist nach mehr als 50 Jahren Schauspielerei eine große Leidenschaft geblieben. Und das Publikum bleibt an seinen Lippen hängen. Seine Lesung zum bundesweiten Vorlesetag am 18. November im Literaturhaus ist ausverkauft.

Matthias Oelrich: Nicht jeder der Schauspieler ist, kann auch gut lesen. Und es gibt Leute, die keine besonders guten Schauspieler waren, aber hervorragend gelesen haben. Mein Vorbild war Gert Westphal. Da wusste ich noch gar nicht, dass ich zum Theater wollte, da habe ich ihn schon gehört. Das hat mich sehr geprägt, also das Verhältnis zur Sprache. Der konnte in seinem Lesen so ein eigenes Traumtheater aufmachen. Der war eigentlich ein mittelmäßiger Schauspieler, aber wenn er gelesen hat, ist er zu einer Riesenform aufgelaufen.

Was ist wichtig, um gut vorzulesen?

Oelrich: Es muss die Imagination der Leute befördern. Sodass irgendein Kosmos im Kopf der Menschen entsteht, die zuhören.

Das kann man aber auch sicherlich üben. Wie haben Sie das gemacht?

Oelrich: In der Schauspielausbildung muss man mit der Stimme arbeiten. Und ich habe einen Sinn für schräge Literatur. Man muss Literatur natürlich mögen. Wenn man etwas liest, was man selber nicht mag, hat es keinen Zweck.

Gibt es etwas, dass Ihnen beim Vorlesen besser gefällt als bei der Schauspielerei?

Oelrich: Das Schöne ist, beim Lesen muss man nichts auswendig lernen. Das war das lästigste an meinem Beruf. Ich wollte als Schüler schon keine Vokabeln lernen und dann habe ich ausgerechnet diesen Beruf ergriffen, bei dem man drei Stunden Text auswendig lernen muss.

Wann haben Sie angefangen, vorzulesen?

Oelrich: In der Schule war ich der Klassenkasper. Da habe ich schon gerne komische Texte oder Balladen vorgetragen.

Wer hat Ihnen als Kind vorgelesen?

Oelrich: Mein Vater hat mir vorgelesen. Die ganzen Sachen des klassischen Altertums. Da bin ich mit der griechischen und antiken Götterwelt bekanntgeworden. Meine Großmutter hat mir Grimms Märchen vorgelesen — ich war viel krank, sie musste viel lesen.

Welche Bücher würden sie als Vorlesestoff für Kinder empfehlen?

Oelrich: Ich glaube, Grims Märchen sind heutzutage zu grausig. Auch in dem, was sie pädagogisch wollen. Heute gibt es unendlich viele gute Kinderliteratur — vom Grüffelo bis zu Pu der Bär. Letzteres gehört zum Lustigsten, was ich kenne. Und es ist ein Humor, den Kinder verstehen. Auch Alice im Wunderland finde ich immer noch toll, weil es so verstiegen und abgedreht ist. Aber Kinder verstehen diesen Humor und das Absurde. Erwachsene verlieren das irgendwann, weil sie immer irgendwie pragmatisch sein müssen. Das Schöne beim Schauspielern ist, dass man Kindskopf bis zum bitteren Ende bleiben kann.