Olympia 2020 Lothar Claesges: Der Held von Tokio erinnert sich
2020 steigen die Olympischen Spiele zum zweiten Mal in Japans Hauptstadt. 1964 holte der Bahnradfahrer dort Gold. Rückblick auf eine besondere Reise.
Der Held von Tokio ist inzwischen ein älterer Herr. Zugegeben, Lothar Claesges’ Goldmedaille bei den Olympischen Spielen ist inzwischen fast 56 Jahre her. Im Bahnrad-Vierer holte er mit seinen Teamkollegen den Sieg in Japan. Der heute 77-Jährige kann viel aus dieser Zeit erzählen. Zum Jahreswechsel lohnt es besonders, Claesges zu besuchen. Im Jahr 2020 finden die Sommerspiele erneut in Tokio statt. Für Claesges ist das ein guter Zeitpunkt zurückzublicken und nach vorne zu schauen. Dieses Mal wird er als Zuschauer vor Ort sein.
Claesges, Strickjacke und weißes Hemd, sitzt an seinem Esszimmertisch. Angesprochen auf seinen Titel, legt er gleich los. Der Blick entrückt, die Details so präsent als wäre das Rennen gerade vorbei. In der Formation Claesges, Streng, Henrichs und Link sei das Bahnradteam angetreten. Die Gegner aus Italien hätten sich im Finale selber auseinandergenommen. Trotzdem war es knapp: Wer als erstes über die Ziellinie kam, war kaum ersichtlich. „Damals gab es ja noch keine elektronische Messung. Wir mussten lange warten.“ Dann die Erlösung. „Germany“ stand auf der Anzeigetafel. „Wir sind alle hoch gesprungen“, sagt Claesges.
BRD und DDR klären in einem Wettkampf, wer nach Japan fliegt
Doch Tokio ist für Claesges weit mehr als dieser Moment. Der Sieg ist Höhepunkt einer besonderen Reise und Karriere. Die Zeugnisse dieses Wegs hat Claesges gesammelt. Ein Koffer voll mit alten Zeitungsberichten steht im Keller, der Name „Claesges“ ist in jedem Titel zu lesen. Seine Pokale und Medaillen hat Claesges in der Vitrine drapiert. Bei manchen muss er auf der Rückseite noch mal nachlesen, welchen Erfolg sie belohnten – zu viele Siege waren es. Die goldene Olympiamedaille liegt in der Schatulle von damals, japanische Schriftzeichen zieren sie. „Du kannst zehn Mal Weltmeister werden. Das weiß irgendwann keiner mehr“, sagt Claesges. „Der Sieg bei Olympia überdauert.“
Claesges und die anderen Fahrer flogen 1964 als Top-Favoriten zu den Spielen. Mit Anfang 20 war der Krefelder ein Star seines Sports. Etliche Titel und Rekorde hatte er erreicht. Trotzdem war Olympia keine Selbstverständlichkeit. „Wir waren die letzte gesamtdeutsche Mannschaft“, sagt Claesges. Sprich: Die BRD und die DDR ermittelten in Wettkämpfen, wer Deutschland in Tokio vertritt. „Das war hart“, sagt Claesges. Letztlich hätten die westdeutschen Fahrer alle Plätze beim Bahnradfahren bekommen.
Das Abenteuer Tokio begann für Claesges schon 1963, also ein Jahr vor den Spielen. In einer ersten Reise besuchten die Top-Athleten das Land. Das war nicht immer einfach, ihn plagte Heimweh, sagt Claesges. Größtes Problem: Die Sprachbarriere. Englisch war als Weltsprache bei Weitem nicht so vielen geläufig wie heute. Dennoch überwiegen von den Reisen 63 und 64 die guten Eindrücke. Die Stadt Kyoto hat Claesges gesehen und auch die japanische Kaiserfamilie.
Und da ist noch der Flug mit allen Sportlern nach Tokio. Das olympische Dorf, in dem Claesges sein Rad mit ans Bett geschoben hat. Die Eröffnungszeremonie, für die er eigens einen weißen Anzug bekam.
Sportlich lief es zunächst wie in einem Albtraum. Ausgerechnet zum Einzelwettkampf schwächte ein Infekt Claesges. Der Sieg blieb also vorerst aus. Doch der ambitionierte Athlet hatte Glück. Das Wetter und die Architektur damaliger Arenen halfen ihm. Es regnete und ein Dach über der Bahn gab es noch nicht. Die Veranstalter mussten den Start verschieben. Claesgens bekam entscheidende Stunden, wieder fit zu werden. Was folgte, war der Mannschaftserfolg. „Man vergisst nie, wie man das Treppchen hochgeht“, sagt Claesges. „Die Hymne läuft, man winkt und die Leute klatschen.“
Für die Krefelder war Claesges’ Wettbewerb ob der Zeitverschiebung ein Ereignis am frühen Morgen. Live konnten die Sportfans das nur im Radio verfolgen. Mit dem Fernsehen lief es anders, als es heute üblich ist. Das Bildmaterial musste erstmal nach Deutschland kommen – mit dem Flugzeug.
Als Claesges nach Krefeld zurückkehrte, war die Freude riesig. Selbstverständlich gab es einen Empfang beim Bürgermeister gemeinsam mit dem Krefelder Bundestrainer Bubi Aeymans – es war der Höhepunkt einer Radsportkarriere. Bei Olympia startete Claesges noch als Amateur und wagte danach den Schritt in den Profibetrieb. In diesen Jahren fuhr der Krefelder gegen Legenden. In seinem Haus hat er ein riesiges Schwarzweiß-Foto, es zeigt drei Radsportler im Kopf-an-Kopf-Rennen. Claesges deutet auf das Bild und sagt: „Das bin ich und daneben ist Eddy Merckx.“ Merckx gewann mehrfach die Tour de France und gilt bei vielen als größter Rennfahrer der Radsportgeschichte.
Knapp zwei Jahre nach Tokio, mit nicht mal 25 Jahren, war für den Sportler Claesges alles vorbei. Bei einem Unfall verletzte ein Auto ihn schwer am Arm. Es ist ein Rückschlag, der gleichsam zeigt, wie ein Olympiasieg ein Leben prägt. „Durch den Sport hatte ich sofort die Energie, etwas Neues anzufangen“, sagt Claesges. Er arbeitete als Raumgestalter und Schreiner – mit Erfolg. Vielen Krefeldern war es wichtig, eine Arbeit des Olympia-Helden im Wohnzimmer zu haben. Es ist wohl einer der Gründe, warum Claesges in der Rückschau nicht hadert.
Im Jahr 2020 wird die Erinnerung noch einmal lebendig. Der Deutsche Olympische Sportbund wolle alle Medaillen-Gewinner von 1964 nach Tokio einladen, sagt Claesges. „Dann möchte ich alles noch einmal erleben.“ Er freue sich, Athleten von damals zu treffen, auch wenn aus dem Radsportteam nur noch ein Mitstreiter lebe. Zu Wettbewerben möchte er und an den Ort seines Siegs. Nie war Claesges in der Zwischenzeit in Tokio. Manches hat er aber gehört. Die alte Rennbahn ist mittlerweile abgerissen. „Da steht nun ein Denkmal, in das auch mein Name eingraviert ist“, sagt Claesges.