Historisches „Ein plötzlicher Bums wäre fatal gewesen“

Krefeld · Einst trug die MS Krefeld den Namen der Stadt über die Weltmeere. Hans Köhn machte mit dem Schiff 1968 seine erste Fahrt als Kapitän. Ein Gespräch mit einem 85-Jährigen, der selbst die Farbe des Schornsteins nicht vergessen hat.

Hans Köhn, ehemaliger Kapitän der „MS Krefeld“, freut sich über ein Glückwunschschreiben von Krefelds Oberbürgermeister Frank Meyer zum 85. Geburtstag.

Foto: Joachim Köhn

Die MS Krefeld war kein besonderes Schiff. Von der MS Solingen, der MS Remscheid und der MS Wuppertal unterschied sie sich nur durch ihren Namen. Die Hamburg-Amerika-Linie (Hapag) ließ das Frachtschiff 1955 bauen, 119 Meter lang, Ladefähigkeit knapp 5100 Tonnen. Für Hans Köhn aber war die MS Krefeld ein besonderes Schiff. Das erste, das er 1968 als Kapitän fuhr. Von diesem Beruf hatte er schon als Junge im Hamburger Stadtteil Finkenwerder geträumt. Köhn fuhr das Schiff genau einmal. Bereits 1971 wurde es verkauft und erhielt einen neuen Namen. Nach mehreren Besitzerwechseln wurde es 1980 in Hongkong verschrottet.

Köhn ist seit 2000 im Ruhestand. Wir erreichen den 85-jährigen daheim am Telefon. Mit seiner Frau wohnt er in der Gemeinde Jork, die ein paar Kilometer von Hamburg entfernt liegt. Vor dem Gespräch hat er sich ein paar Notizen gemacht.

Sagen Sie eigentlich auch links und rechts, wenn Sie nicht gerade auf See sind?

Hans Köhn: Wenn wir unter Seeleuten sind, sagen wir schon mal Backbord und Steuerbord. Im Moment humpel ich ein wenig, mir tut die rechte Hüfte weh beim Gehen. Dann spreche ich von Steuerbord-Schlagseite.

Vergisst man das erste Schiff, auf dem man Kapitän war, so wenig wie seine erste Freundin?

Köhn: Im Grunde genommen ja.

Wie sah die MS Krefeld denn aus?

Köhn: Sie hatte einen schwarzen Rumpf, der Wassergang war rot gestrichen, die Aufbauten weiß. Der Schornstein schwarz-weiß-rot-gelb, die Masten gelb. Sie war ein schönes, kleines Schiff, das gut manövrierte. Ein richtiges Schiff zum Lernen.

Sie waren Kapitänsanfänger.

Köhn: Vorher war ich noch erster Offizier und Ladungsinspektor der Hamburg-Amerika-Linie in Hamburg. Dann forderte ich meine Beförderung ein: Es ist so weit, ich möchte Kapitän werden.

Und dann sind Sie Kapitän geworden?

Köhn: Dazu musste ich aber eine Kapitänsreise machen. Bevor ich auf der „Krefeld“ anmusterte, habe ich das Schiff als Ladungsinspektor noch selbst im Hamburger Hafen beladen. Dann habe ich meinen Anzug gewechselt und als Kapitän das Kommando auf der MS Krefeld übernommen. Am 19. August 1968 sind wir ausgelaufen, mit 41 Mann Besatzung. Ich zähle sie mal auf.

Bitte.

Köhn: Der Kapitän, drei nautische Offiziere, ein Funker, drei technische Offiziere, ein Offiziersanwärter, drei Ingenieursassistenten, ein Elektriker, drei Reiniger, drei Schmierer. Die Küche war besetzt mit einem Koch, Schlachter und Bäcker. Im Salon hatten wir drei Stewards, in der Mannschaftsmesse zwei, und in der Offiziersmesse zwei. Ein Zimmermann, ein Bootsmann, ein Storekeeper und neun Matrosen.

Wohin ging die Reise?

Köhn: Das Schiff war im US-Golf-Mexiko-Dienst eingesetzt. Zunächst fuhren wir von Hamburg nach Bremen, Rotterdam und Antwerpen. Geladen wurden Kisten und Kasten, Autos- und Maschinenteile. Im letzten europäischen Hafen kamen zwölf Passagiere an Bord, ein Pastor und elf Ordensschwestern.

Was wollten die auf einem Schiff?

Köhn: Die wollten nach Mexiko. Alle Personen im gängigen Alter, Vorkante 30 Jahre. Mit denen hatten wir viel Spaß. Das Wetter war ruhig. Windstärke 3-4. Wir spielten viel Shuffleboard an Deck...

... eine Art Curling ohne Eis...

Köhn: ... und schnatterten viel über Land und Leute. So schipperten wir über den Atlantik, steuerten die Azoren an, die Insel São Miguel. Drei Seemeilen vor Ponta Delgada haben wir eine Postboje ins Wasser gesetzt.

Was ist das?

Köhn: Im Grunde eine dichtgelötete Gurkendose auf einem Holzkreuz mit einer Flagge an der Seite. Der Inhalt bestand aus einer Flasche Whiskey, 200 Zigaretten, zehn US-Dollar und der Schiffspost. Die Fischer haben die Dose aufgefischt, das Porto bezahlt und die Post zum Briefkasten gebracht.

Bis zur US-Küste mussten Sie noch ein Stück fahren.

Köhn: Der erste Hafen war Miami, dann folgten Mobile, New Orleans und Houston. In den Häfen haben wir gelöscht und gleichzeitig wieder geladen, Holz, Baumwolle, Konserven und Autoteile, verpackt in Kisten. Der nächste Hafen war Veracruz, Mexiko. Dort gingen die Passagiere von Bord. Die Ladung aus Mexiko war ebenfalls Baumwolle, Holz, Rohkaffee. Und ein ganz besonderes Gut wurde uns angedient. So etwas hatte ich noch nie in meiner aktiven Zeit geladen.

Und zwar?

Köhn: Der Makler sagte: ,Sie werden heute noch eine große Menge getrockneter Fliegen laden.’ Ich sagte: ,Wie bitte?’ Er sagte: ,Ja, Fliegen werden Sie laden.’ Sie waren in riesigen Beuteln verpackt, zwei mal zwei mal zwei Meter.

Wer braucht denn so viele Fliegen?

Köhn: Die Parfümindustrie. Sie pressen die Fliegen aus und gewinnen daraus Öl. Das ist keine Seemannsstory. Damit war das Schiff aber noch nicht voll beladen. Wir fuhren noch mal in die USA nach Freeport, Texas. Dort füllten wir unseren Leerraum mit Chemikalien von Dow Chemical. Die Fässer waren als Gefahrgut-Ladung deklariert.

Und dann konnten Sie heimfahren?

Köhn: Der erste Hafen war Rotterdam. Dafür war unsere Gefahrgut-Ladung bestimmt. Wir dachten, wir könnten ohne Verzögerung nach Rotterdam fahren. Aber es kam anders. Die Maas-Kontrolle fragte, ob wir eine gute Reise gehabt hätten. Jetzt müssten wir aber erst einmal auf den Ankerplatz für gefährliche Ladung fahren und abwarten. Erst als kein Schiff mehr auf dem Fluss war, durften wir nach Rotterdam schippern. Der Grund war, dass die Chemikalien in den Fässern von der Industrie benötigt wurden, um sie zu Sprengstoff für Bergwerke zu verarbeiten. Deshalb durften wir den Fluss nur allein befahren. Ein plötzlicher Bums wäre fatal gewesen. Am 28. Oktober waren wir zurück in Hamburg. Damit hatte ich die praktische Kapitänsreise bestanden.

Wollten Sie schon immer aufs Meer?

Köhn: Ja, meine ganze Familie ist zur See gefahren. Mein Vater, meine Onkel, mein Bruder, meine Neffen. Wir haben direkt an der Elbe gewohnt. Ich habe nicht im Sandkasten gespielt, sondern war mit unserem Ruderboot auf der Elbe unterwegs. Dort sah ich die großen Schiffe vorbei fahren und träumte von der großen, weiten Welt.

Mit 15 haben Sie auf einem Schiff angefangen.

Köhn: Auf einem Schuten-Schlepper, „Helmut“. Die Elbe war nach dem Zweiten Weltkrieg sehr versandet und musste erst wieder freigebaggert werden, hauptsächlich der Hamburger Hafen. Wir haben die Schlickschuten, die der Bagger vollgemacht hat, aus dem Hafen elbabwärts geschleppt, dort wurden sie geleert.

Was braucht man, um Kapitän zu werden?

Köhn: Sie müssen das Steuermannspatent auf großer Fahrt machen, Praxis sammeln, wieder studieren und das Kapitänspatent auf großer Fahrt erwerben. Und piccobello gesund müssen Sie sein. Ich hätte damals nicht mal kurzsichtig sein dürfen. Mittlerweile geht es auch mit Brille. Es gab schließlich keinen Arzt auf dem Schiff. Erste Hilfe gehörte zu unserer Ausbildung, wobei das etwas mehr als Erste Hilfe war. Im Krankenhaus mussten wir üben, Wunden zu nähen, amputierte Beine zu versorgen und zu verbinden.

Haben Sie das Wissen gebraucht?

Köhn: Ich habe mal eine Handfläche zugenäht. Wir waren im Pazifik, als ein Steward sich die rechte Hand und die Sehnen durchschnitt. In Los Angeles habe ich den Mann ins Krankenhaus gegeben. Dort hieß es dann: Das ist aber richtig schön gemacht. Die Ärzte haben die Wunde nur neu versorgt und verbunden und den Mann in den Flieger nach Deutschland gesetzt.

Und Ihnen selbst ist nie was passiert auf hoher See?

Köhn: Nein... oder doch. Ich hatte mal ein Kehlkopfgeschwür, wir waren auf dem Weg zum Panama-Kanal. Ich habe das Schiff noch auf die Panama-Kanal-Reede, also einen Ankerplatz, gefahren. Dort kam der Doktor an Bord. Der Arzt hat meinen Mund so weit aufgerissen, als ob er reinkriechen wollte. Er hat das Geschwür aufgepickt, und die Sache war erledigt.

Ist das Leben auf einem Schiff so abenteuerlich, wie sich der Laie das vorstellt?

Köhn: Es ist überhaupt nicht abenteuerlich. Das ist Alltag, Arbeit und Schlafen. Ein harter Job.

Sind Sie nie in Seenot geraten?

Köhn: Nein, da bin ich im Grunde genommen auch froh drüber.

Haben Sie mal ein Kreuzfahrtschiff gefahren?

Köhn: Nein, aber drauf gefahren bin ich als dritter Offizier, die MS Italia. Als junge Offiziere wurden wir dort eingesetzt mit dem Spruch: ,Damit ihr lernt, mit Messer und Gabel zu essen.’ Na ja – Ha, Ha, Ha. Auf einer Reise begegnete ich dem Kapitän auf dem Bootsdeck, und der sagte zu mir: ,Junger Mann, passen Sie auf, dass Sie sich nicht erkälten!’ Ich dachte nur, es ist doch so schön warm, was soll diese Bemerkung? Dabei hatte ich vergessen, von meiner blauen Uniform-Jacke einen Knopf zuzumachen. Das hat er sofort gesehen.

Waren Sie jemals in Krefeld?

Köhn: Nein, nur in Bonn, Lohmar und Köln, dort wohnen unsere Kinder.

Denken Sie denn bei Krefeld immer an Ihre „Krefeld“?

Köhn: Immer. Die Erinnerung kommt sofort. Von den meisten Schiffen, mit denen ich unterwegs war, habe ich Fotos an der Wand hängen. Das Foto von der MS Krefeld hängt mittendrin.

Wie viele Schiffe haben Sie gefahren?

Köhn: Ich zähle mal die, die an der Wand in meinem Arbeitszimmer hängen... Ich würde sagen, das waren bestimmt 40 oder 50. Das ist der Schlepper Helmut, auf dem ich meinen Beruf erlernt habe. Die Maria Franziska Jörg, die Messina, die SS Teutonia, dann die Italia, die Leverkusen, die Frankfurt, die Nürnberg, die Weimar, die Wiesbaden, die Duisburg, die Düsseldorf, die Krefeld, die Bavaria, die Erlangen, die Borussia, die Westfalia, die Elbe Express, die Alster Express...

Der Ruhestand muss schwer für Sie sein.

Köhn: Nur das erste Jahr. Da sind wir auch mal Einkaufen gegangen. Ich habe zu meiner Frau gesagt: ,Zum Aldi hin und zurück – ist das alles?’ Da hat sie gelacht und gesagt: ,So wird es wohl bleiben.’