Besatzung nach dem Ersten Weltkrieg Vor 100 Jahren verließen die Franzosen Gruiten

Haan · Die Trennlinie der französisch und britisch besetzten Zonen verlief vor 100 Jahren genau zwischen Gruiten und Haan. Heimatforscher Lothar Weller hat für den Bergischen Geschichtsverein Aufzeichnungen gesammelt und wirft in seinem Beitrag, den wir in Auszügen veröffentlichen, einen Blick auf diese entbehrungsreiche Zeit nach dem Ersten Weltkrieg.

Ausweis für die Einreise von Elberfeld ins besetzte Rheinische und Ruhrgebiet (z.B. nach Vohwinkel oder Gruiten) vom 31. März.1923.

Ausweis für die Einreise von Elberfeld ins besetzte Rheinische und Ruhrgebiet (z.B. nach Vohwinkel oder Gruiten) vom 31. März.1923.

Foto: Hans Förstemann

Das schreckliche Inflationsjahr 1923 war auch das Jahr, in dem die sogenannte Ruhrbesetzung begann, durch die die Franzosen und Belgier die ausbleibenden Reparationszahlungen, die Deutschland nach dem Versailler Vertrag zu leisten hatte, in Form von erhöhten Sachleistungen (vor allem in Form von Kohle und Holz) erzwangen.

Gruiten war der südliche Zipfel des französischen Einflussgebiets (Haan gehörte zur britischen Zone), wurde aber zunächst von den Franzosen wenig beachtet. Das änderte sich, als sie merkten, dass Gruiten ein Schlupfloch von und ins angrenzende Gebiet der Briten war.

Drei Wochen nach dem Beginn der Ruhrbesetzung am 11. Januar 1923 durch zunächst rund 60 000 Soldaten, als Gruiten noch nicht betroffen war, richtete Bürgermeister Armbrustmacher einen Aufruf an die Bevölkerung, in dem es um Spenden zur Unterstützung der wegen passiven Widerstands in Not geratenen Familien aus dem tatsächlich besetzten Gebiet ging.

Wenige Wochen später wurde eine Besetzung Gruitens durch die Franzosen nicht mehr ausgeschlossen. Es kam zu einer „vaterländischen Kundgebung gegen die Ruhrbesetzung“, in der die versammelten Gruitener gelobten, „sollte uns auch das Schicksal einer Besetzung ereilen, alles zu tun, um eine siegreiche Abwehr zu erreichen“.

Ende März war es dann soweit, auch Gruiten wurde besetzt. Ernst Breidbach hat in seinen Jugenderinnerungen geschrieben: „Als man bemerkte, dass die Straßen durch Gruiten für Warentransporte und Schmuggel sehr geeignet waren, errichtete man im Dorf eine Straßensperre. Die Franzosen waren sehr brutal, dagegen die Engländer auf der Bahnbrücke viel humaner. Wenn Vater nach Elberfeld liefern mußte, ging er hinter dem Bahnhof im Gellenkoten über die Schienen zu Fuß nach Haan, von dort ließen ihn die Engländer über Solingen, Remscheid nach Elberfeld fahren. Die brutalste Kontrolle in Vohwinkel umging er damit.“

Geschäft konnte nur noch
wenige Stunden am Tag öffnen

Die Geschichte der Gruitener Kaufmannsfamilie Lohoff enthält folgende Passage: „Als die Franzosen 1923 zur Ruhrbesetzung einzogen und eine geschlossene Zollgrenze von Norden nach Süden legten, wurde das Geschäft vom größten Teil aller Lieferanten abgeschnitten. Der Warenmangel wurde so groß, dass das Geschäft nur noch wenige Stunden am Tage geöffnet werden konnte und selbst dafür musste die Ware teilweise durch Schmuggel herangeschafft werden.“ Adresse des besagten Geschäfts war die Bahnstraße 28, es lag dem Rathaus gegenüber.

Reinhard Koll hat die Folgen der Besetzung so beschrieben: „In den Quartieren waren das Porzellan zerschlagen und die Öfen zerstört, die Übungsgeräte des Gruitener Turnvereins mussten als Brennholz herhalten, der Wildbestand war beinahe verschwunden, die Düssel von Forellen leergefischt und die Obsternte weitgehend von den Bäumen gestohlen.“ Die Franzosen hatten mehr als 120 detaillierte Bestimmungen erlassen, von der Abgabe aller Schusswaffen über nächtliche Ausgangssperren bis hin zur Abgabe von Brieftauben.

Am schwersten litt die Gruitener Wirtschaft. Rohstoffe konnten wegen der Blockade nicht ankommen, Ausfuhren wurden durch Zollbestimmungen verhindert oder erschwert. Wegen der Straßensperren konnten Fuhrwerke und Autos nicht nach Haan gelangen.

Während Ende 1922 noch alle Gruitener Betriebe Vollbeschäftigung verzeichneten, stieg die Zahl der Erwerbslosen von Mitte Februar 1923 von einem guten Dutzend auf fast 1000 bis zum Jahresende an. Zu diesem Zeitpunkt war beinahe die Hälfte der Einwohnerschaft auf öffentliche Fürsorge angewiesen. Aber die allgemeine Not bewirkte ein Gemeinschaftsgefühl. Private Waldbesitzer gaben Brennholz zu mäßigen Preisen ab, sodass der allgemeine Kohlenmangel einigermaßen ausgeglichen werden konnte. Landwirte spendeten 230 Zentner Roggen. Die Zahl der Feld- und Forstdiebstähle nahm dennoch dramatisch zu. Der einzige Polizeibeamte und seine Landjäger konnten hier wenig Abhilfe schaffen, zumal sie keine Schusswaffen tragen durften.

Ende September des Jahres 1923 gab die Reichsregierung den von ihr verkündeten passiven Widerstand auf. Damit trat wieder eine gewissen Normalität in den besetzten Gebieten ein. Im Juni 1924 wurde das französische Soldaten-Kontingent in Gruiten auf zehn Mann reduziert. Im Sommer fand in London eine internationale Konferenz statt, welche das Reparationsproblem lösen wollte. Ihr Ergebnis war der sogenannte Dawes-Plan.

Als Zeichen ihres guten Willens räumten die Franzosen die Gebietsteile um den Kölner Brückenkopf, somit kam Gruiten Mitte September 1924 frei. Millrath und Schöller galten noch bis März des darauffolgenden Jahres als besetzt, obwohl auch hier die Soldaten längst abgerückt
waren.