Vortrag in Haan Wenn der Missbrauch in die Sucht führt
Haan · Jeder vierte Mensch ab einem Alter von 70 Jahren nimmt Psychopharmaka zu sich. Was eigentlich Not lindern soll, führt in vielen Fällen zum Missbrauch. Zu einem immer noch unterschätzten Problem hielt der Arzt Bodo Lieb einen Vortrag in Haan.
(elk) Das ist offensichtlich ein unterschätztes Thema: Über die Sucht im Alter referierte Bodo Lieb, Chefarzt der Abteilung für Abhängigkeitserkrankungen an der LVR-Klinik in Langenfeld, auf Einladung der Seniorenunion Haan. Das Interesse an diesem Vortrag sei groß gewesen, berichtet Alfred Babel, Mitglied im Seniorenbeirat der Stadt: „Alle Stühle der Cafeteria im Seniorenpark Carpe Diem waren besetzt.“
Lieb erklärte in seinem Vortrag, dass es vor allem der Missbrauch von Alkohol und Medikamenten sei, der in die Sucht führe. Oft führe Schlaflosigkeit dazu, dass ältere Menschen zu solchen Mitteln greifen. Auslöser der Schlaflosigkeit seien vor allem Schicksalsschläge wie der Tod geliebter Menschen oder einfach auch nur der Verlust eines geordneten Alltages nach dem Eintritt ins Rentenalter.
Aus seinen Gesprächen mit vielen älteren Menschen kann Alfred Babel das bestätigen. Häufig kämen Betroffene schlichtweg nicht damit klar, nicht mehr gebraucht zu werden. Wer dann nicht schlafen könne, mache sich sehr häufig Stress, greife zu den falschen Mitteln und lasse sich dann von Ärzten auch noch Medikamente verschreiben, die statt einer Linderung in die Abhängigkeit führen würden. In den schlimmsten Fällen seien es diese Medikamente, die bei einer bewussten Überdosierung zum Tode führen. Der Selbstmord älterer Menschen mittels Arzneien sei ein Problem, das in seiner Dramatik nicht erkannt werde.
Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes begangen im Jahr 2022 mehr als 10 000 Menschen in Deutschland Selbstmord. Gegenüber dem Jahr 2021 bedeutete dies einen Anstieg von rund 10 Prozent. 4500 Suizide wurden von Menschen ab einem Alter von 65 Jahren begangen. Unter allen Alterskohorten erreichte die Gruppe der 80- bis 84-Jährigen mit 1089 Fällen den Höchstwert.
In seinem Vortrag formulierte Bodo Lieb eine klare Botschaft: Es müssen Therapiekonzepte entwickelt werden, die gezielt die Senioren in den Blick nehmen. Der Arzt stellte den Zuhörern eigene Erfahrungen vor, die er in Studien ausgewertet hatte. Dass diese von Relevanz sein dürften, zeigt das Renommee des Mediziners: Lieb wurde vom Ratgeber-Magazin „Focus Gesundheit“ zum dritten Mal in Folge als Top-Mediziner in der Rubrik „Suchterkrankungen“ ausgezeichnet. Übrigens kann man seinen Vorträgen auch auf Youtube folgen. Die LVR-Klinik Langenfeld hat dort einen Kanal eingerichtet. Liebs Einführung in die Suchtmedizin wurde unter dem Titel „Von ,Säufern’, ,Junkies’ und ,Kiffern‘“ veröffentlicht und erzielte bisher mehr als 6000 Aufrufe.
Menschen, deren Gedanken um Selbstmord kreisen, sollten sich unbedingt Hilfe suchen. Eine niedrigschwellige Möglichkeit bietet sich mit einem kostenfreien Anruf bei der Telefonseelsorge, die unter der Telefonnummer 0800 1110111 erreichbar ist.