„Ich habe eine Familientragödie aufgedeckt“
Studentin Lisa Quernes hat das Schicksal der Langenfelder Psychiatrie-Patientin Gertrud Stockhausen (1900-1941) erforscht. Sie wurde dafür mit einem Preis ausgezeichnet.
Langenfeld. Gertrud Stockhausen war neun Jahre lang Psychiatrie-Patientin in der Heil- und Pflegeanstalt Galkhausen, der heutigen LVR-Klinik. 1941 wurde sie im Alter von 40 Jahren in die NS-Tötungsanstalt Hadamar bei Limburg abtransportiert und — wie mindestens 200 000 weitere Opfer des systematischen Massenmords an psychisch Kranken und Behinderten im Dritten Reich — umgebracht. Das Schicksal der Mutter von Karlheinz Stockhausen, des späteren weltberühmten Komponisten, ist inzwischen erforscht — von Lisa Quernes (23), deren Arbeit über Gertrud Stockhausen beim Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten mit einem Sonderpreis ausgezeichnet wurde. Bei der Mahnfeier zum Holocaust-Gedenktag in der LVR-Klinik stellte die Studentin ihre Forschungsergebnisse auch in Langenfeld vor.
Wie sind Sie ausgerechnet auf die Spur von Gertrud Stockhausen gekommen?
Lisa Quernes: Ich war auf der Suche nach Recherchematerial für den Wettbewerb. Zu der Zeit war ich noch Schülerin am Musikgymnasium Rheinland-Pfalz in Montabaur, und deshalb war mir der Name Stockhausen wegen des Komponisten Karlheinz Stockhausen ein Begriff. Als ich dann von einem Bekannten den Hinweis bekam, dass dessen Mutter in der Tötungsanstalt Hadamar umgebracht wurde, habe ich mich sogleich an die Recherche gemacht.
Wie ging es dann weiter?
Quernes: Ich habe versucht, etwas über Gertruds Angehörige herauszubekommen. Von ihnen hatte sich aber bisher keiner so richtig damit befasst und dafür interessiert. Sie wussten fast nichts. Deshalb habe ich in mehr als 40 Archiven geforscht — unter anderem im Bundesarchiv in Berlin, wo ich schließlich die Patientenakte und die Papiere gefunden habe. Hilfreich war auch das Stockhausen-Archiv.
Wie war das Ganze rückblickend für Sie persönlich?
Quernes: In erster Linie war es natürlich sehr spannend, auch in geschichtswissenschaftlicher Hinsicht. Darüber hinaus war es auch oft sehr bewegend, je mehr Details ich zu ihrer Person herausgefunden habe. Außerdem war es toll, in so engen Kontakt mit ihrer Familie treten zu können. Ich habe so viele Familienbilder bekommen, habe das Beziehungsgeflecht in der Familie besser verstehen können, und alle haben mich in jedem Part meiner Recherche unterstützt. Dafür bin ich sehr dankbar, und ich freue mich natürlich, dass die Familie auch untereinander noch mehr zueinandergefunden hat. Durch dieses Thema haben sich Cousins und Cousinen erstmals getroffen oder nach 50 Jahren überhaupt voneinander erfahren — das war schon etwas Tolles.
Warum ist in Ihren Augen historische Biografie-Forschung wertvoll?
Quernes: Meiner Meinung ist es sehr wichtig, noch mehr solcher Einzelschicksale aufzuarbeiten. Das, was früher passiert ist, konnte man sich überhaupt nicht richtig vorstellen. Man hört immer diese riesigen Zahlen von anonymen Massen, die dabei gestorben sind. Natürlich ist das schon schlimm genug, aber so richtig begreifen kann man die Geschehnisse erst, wenn man Geschichten zu den Personen hat, die dort gestorben sind — mit Namen, Gesichtern, Lebensgeschichten. Wenn man solche Beispiele wie das der dreifachen Mutter Gertrud Stockhausen hat, wird einem erst klar, was das für die Patienten und ihre Familien überhaupt bedeutet hat. Ich finde, dieses „Entanonymisieren“ ist das Wichtigste.
Welche Fragen zur „Euthanasie“ müssen noch beantwortet werden?
Quernes: Natürlich ist es immer noch unvorstellbar, wie mitten in einer Gesellschaft Nachbarn, Bekannte „verschwanden“, obwohl man Dinge ahnte. Dazu ist allerdings zu sagen, dass nicht alle weggeschaut haben, sondern es auch Menschen gab, die es geschafft haben, ihre Angehörigen zu verstecken, oder die versuchten, sie aus den Anstalten herauszuholen. Was ich auch nicht begreifen kann, ist, mit welchem Gewissen die Menschen gelebt haben, die dort gearbeitet haben. Unerforscht ist noch so vieles — nicht zuletzt auch deshalb, weil die Akten aus dem NS-Archiv des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit bis 1990 unter Verschluss waren. Dort befand sich ja auch die Galkhausener Krankenakte von Gertrud Stockhausen.