Als Wülfrath noch 20 Kneipen hatte
In den 50er und 60er Jahren spielte sich das öffentliche Leben noch am Tresen ab. Ein geschichtlicher Rückblick mit Eberhard Tiso.
Wülfrath. Eberhard Tiso geht nicht gerne nach 19 Uhr durch die Innenstadt. „Da kriege ich Depressionen“, sagt der Trägervereinsvorsitzende des Niederbergischen Museums. Er kennt noch die Zeit, als es in Wülfrath rund 20 Kneipen gab und erinnert sich gerne zurück. Tiso sagt: „Es war nicht alles besser früher, aber eben alles anders.“
Anders waren in den 50er und 60er Jahren, die Tiso als die Hochzeit des Wülfrather Kneipenlebens sieht, auch die Wirte. „Das waren schrullige Unikate. Da ist man schon allein deswegen in die Kneipe gegangen, weil immer etwas passieren konnte“, berichtet der 69-Jährige, dem Lokalhistorie ein großes Anliegen ist.
Dass der Wirt sich in seinem Hoheitsgebiet die Gäste aussuchen konnte, war damals normal. Kleinigkeiten konnten den Ausschlag für einen Rauswurf geben. Bier umgestoßen? Raus! Schnitzel nicht aufgegessen? Da konnte es sein, dass der Wirt durchs Lokal brüllt.
Tiso hat das alles erlebt. Eine besondere Persönlichkeit habe es auch in der Kneipe Öhm Vogel (Wilhelmstraße, Ex-Altstadtlädchen, heute Schuhgeschäft) gegeben. „Der Wirt hatte viel aus Düsseldorf mitbekommen. Auch die Haltung. Wenn dem eine Nase nicht passte, ist der rausgeflogen.“ Die Leute kamen trotzdem, denn das öffentliche Leben spielte sich in Kneipen ab.
„Es war normal, dass sich die jungen Leute in der Stadt trafen“, berichtet Tiso. Er ging immer gerne ins Café Euer an der Bahnhofstraße/Ecke Wilhelmstraße (heute Indochina-Restaurant). „Da waren wir rund 30 Jugendliche. In der Ecke stand ein Klavier, auf dem gespielt wurde“, berichtet er.
Die Freizeitaktivitäten leiteten sich häufig aus dem Bar-Angebot ab. Mit 16 Jahren lernte Tiso im Alten Rathaus das Skatspielen. Die Schlegel-Stube an der Kastanienallee (im Keller des heutigen Kindergartens Wülfrath e.V.) wurde zu Wülfraths Szenekneipe, weil es dort zwei einmalige Highlights im Stadtgebiet gab: eine Musikbox und einen Kickertisch. „Es wurde immer um ein Bier gespielt. Und wer verloren hat, der hat dann meistens den Einsatz verdoppelt.“ So sei es schon mal vorgekommen, dass plötzlich 60 Bier als Wetteinsatz auf dem Tresen standen.
Für jeden gab es, so Tiso, die richtige Kneipe im Stadtgebiet. „Alt Wülfrath“ an der Mühlenstraße war etwa die Kneipe der „Malocher“. „Die hieß bei uns nur ,zum blutigen Knochen’, weil es da oft Prügeleien gab“, erinnert sich Tiso. Die Kneipe „Zur gemütlichen Ecke“, einst gegenüber der katholischen Kirche an der Goethestraße“, hatte sich den Spitznamen „Der Vatikan“ verdient.
In Düssel betrieb die „Witwe Bolte“ ihr Lokal an der Ecke Tillmansdorfer Straße/Dorfstraße. Das Gebäude steht heute unter Denkmalschutz — inklusive der berühmten Durchreiche. Hier ließen sich Kinder den Krug auffüllen, denen ihnen der Papa zu Hause mitgegeben hatte. Damit die kleinen Boten nicht die verruchten und verrauchten Räume betreten mussten, wurde der Gerstensaft nach draußen gereicht.
Gerade zu später Stunde waren Kneipen kein Platz für junge Leute. Tiso berichtet davon, dass der Wirt in einer bestimmten Lokalität schon mal gegen 22 Uhr die Tür schloss und erotische Dias vorführte.
In erster Linie waren Wülfraths Kneipen jedoch keine Sexkinos, sondern — so sieht das der Ur-Wülfrather — ein gesellschaftliches Gut. „Früher musste man sich noch mit anderen austauschen und seine Meinung vertreten. Heute trifft man sich im Internet tendenziell mit Menschen, die die gleiche Meinung haben“, glaubt Tiso, der sich sicher ist, dass das Sterben der Kneipenkultur eine Stadt verändert.