Ratingen: Erstmals wieder geschlemmt

Nach Jahren des Krieges und des Mangels gab es endlich ein kleines Stück Vertrautheit.

Ratingen. Finanzkrise? Wirtschaftskrise? Rezession? Wer die von Einkäufern verstopften Innenstädte sieht, wer auf der Suche nach einem Parkplatz zehn Mal die Runde dreht, wer über lange Schlangen an den Kassen stöhnt und sich wundert, wie selbstverständlich hunderte Euro für Geschenke ausgegeben werden, mag den düsteren Prognosen der Wirtschaftsexperten kaum glauben.

Und die Älteren winken sowieso ab: Sie wissen, was wirkliche Krisen sind. Sie haben erlebt, wie es ist, wenn quasi über Nacht das Geld seinen Wert verliert, wenn es überhaupt nichts gibt, was man kaufen könnte, ja wenn es sogar am Notwendigsten zum Leben fehlt.

Nach sechs Kriegsjahren und zwei bitteren Hungerwintern schöpften die Ratinger vor 60 Jahren wieder berechtigte Hoffnung: Es wird schon wieder! Die Währungsreform gab dabei den entscheidenden Anstoß: Die wertlos gewordene Reichsmark wurde abgeschafft, jeder erhielt 40 Deutsche Mark ausgezahlt.

"Das war ein absoluter Umbruch. Über Nacht waren die Läden und Geschäfte voll, es gab ein für uns unglaubliches Angebot an Waren und Lebensmitteln", erinnert sich Helmut Pfeiffer. Als Jugendlicher hatte er Not und Mangel damals hautnah miterlebt.

Noch war die Stadt vom Krieg gezeichnet, die Schäden des verheerenden Bombenangriffes noch allgegenwärtig. Pfeiffer: "Trümmer und Schutt waren zwar weitgehend weggeräumt, aber vieles noch nicht wieder aufgebaut." Wer das Glück hatte, von den Bomben verschont geblieben zu sein, musste seinen Wohnraum mit den zu tausenden ankommenden Heimatvertriebenen teilen.

Weniger Glück hatte Otto-Werner Stinshoff, dessen Elternhaus an der Friedrich-Mohn-Straße zerstört wurde. "Nur der Keller stand noch." Er gehörte zu den so genannten Enttrümmerern, schleppte wochen- und monatelang Steine und Ziegel - "bis die Finger bluteten."

1948 stand das Haus weitgehend wieder. "Um das Holz für den Dachstuhl zu bekommen, haben wir quasi auf dem Schwarzmarkt dem Dachdecker ein kleines Grundstück in Ratingen Ost gegeben." Das Geld, das es bei der Währungsreform gab, gaben die Stinshoffs für Glasscheiben aus. So konnte man vor Weihnachten wieder in den eigenen vier Wänden feiern.

Trotz übervoller Auslagen in den Geschäften war aber das Essen ein Problem. Etliche Händler nahmen willkürliche und entsprechend völlig überhöhte Preise, die viele nicht bezahlen konnten.

Und die mit Essensmarken zugeteilten Rationen reichten vorne und hinten nicht. In Aushängen und in der Zeitung erschienen Mitteilungern darüber, welche Zuteilungen fällig werden. Für die Weihnachtszeit 1948 waren ein paar hundert Gramm Brot und je nach Karte 75 oder 125 Gramm Fett vorgesehen.

Beim Fleisch gab es Pferdefleischkonserven oder 100 Gramm pro Karte. Die Stinshoffs konnten sich mit Obst und Gemüse aus dem Garten über die Runden helfen, Otto-Werner bekam zudem eine "Unterernährtenzulage".

Bei Helmut Pfeiffer war Weihnachten 1948 erstmals wieder ein richtiges Fest. "Wir haben es gefeiert wie vor dem Krieg", sagt er rückblickend. Auch an sein Geschenk kann er sich noch gut erinnern: "Meine erste Armbanduhr. Das war etwas ganz Besonderes. Damit war es aber auch getan."

Gutes Essen sei an Weihnachten immer wichtig gewesen. Und nach all dem Elend der Jahre zuvor ließen es sich die Pfeiffers erstmals wieder gut gehen. "Wir hatten im Garten Kaninchen und Hühner - das gab einen guten Braten und eine leckere Hühnersuppe."

Schon Wochen vorher hatte seine Mutter Vorräte zur Seite gelegt und Plätzchen gebacken. Zum Fest wurden dann auch richtige Torten aufgetischt - "meine Mutter hatte dafür ein richtiges Händchen." Man hatte großen Nachholbedarf und geschlemmt wie schon lange nicht mehr.

An Weihnachten gönnte man sich auch eine warme Stube. Denn Brennstoffmangel war so alltäglich wie die Eisblumen an den Fenstern. Der Schwarzmarkt blühte immer noch, die Löhne waren gering.

52 Pfennig Stundenlohn bekam Helmut Pfeiffer damals als ausgelernter Schneidergeselle. "Mit etwas Glück konnte mein Vater ein oder zwei Zentner Kohle ergattern. Außerdem durften wir in Tiefenbroich Holz sammeln - aber nur was weniger als acht Zentimeter Durchmesser hatte", erinnert er sich.

Geheizt wurde in der Regel deshalb nur die Küche. Aber nach dem schlimmen Hungerwinter 1946/47 empfanden die Menschen solche Annehmlichkeiten schon als einen Reichtum der besonderen Art.