Geschichte der jüdischen Gemeinde (2) Als in Kempen die Synagoge brannte

Kempen · Am Morgen des 10. November 1938 drangen SA-Männer in die Synagoge an der Umstraße ein und setzten sie in Brand.

Die Synagoge der jüdischen Gemeinde Kempens, die am 10. November 1938 in Brand gesetzt wurde.

Foto: Kreisarchiv Viersen

In der 1919 begründeten Weimarer Republik gewinnen Juden politisch und kulturell an Einfluss – durch Persönlichkeiten wie den 1922 von Rechtsradikalen ermordeten Politiker Walther Rathenau oder durch den Schriftsteller Kurt Tucholsky. Zunehmend macht sich ein liberaleres Klima breit. Ein Beispiel vor Ort: Der Kempener Anwalt und Notar Dr. Karl Winter ist bei vielen christlichen Familien wegen seines Humors und seiner Uneigennützigkeit beliebt. In seinem Garten, heute Kerkener Straße 1, versammelt sich im Sommer oft die Nachbarschaft, die Kinder tollen auf der Schaukel umher. Als 1933 mit der nationalsozialistischen Machtergreifung der Antisemitismus Staatsdoktrin wird, nimmt dieses Idyll ein jähes Ende.

10. November 1938, morgens um halb zehn: Sechs uniformierte SA-Männer unter dem Kempener SA-Sturmführer Ernst Sipmann poltern in die Synagoge an der Umstraße. Sie werfen die Bänke um, zerschlagen die Fenster, nehmen die Kultgegenstände an sich, zertrümmern mit Äxten die Heilige Lade, die an der Ostwand des Gebäudes die Tora-Rollen birgt. Als die Lade nicht einstürzen will, rütteln sie solange an ihren Säulen, bis sie zusammenbricht.

Mithilfe eines Benzinkanisters zünden sie die Holzfragmente an. Über der Lade ist der Davidsstern an die Wand gemalt und in ihn kunstvoll eingebunden in hebräischer Schrift ein Zitat aus dem Talmud: „Da lifne mi ata omed – Wisse, vor wem du stehst!“ Eine Mahnung zur Ehrfurcht an jeden, der diesen Raum betritt. Aber die Nazi-Vandalen kann das nicht berühren. Mit einem Sack voller Sägespäne fachen sie das Feuer an; die Fenster werden zerschlagen, damit die Flammen besser Luft bekommen.

Nach der Brandschatzung setzten die Deportationen ein

Auf der anderen Straßenseite sammelt sich eine Menschenmenge und starrt auf das gebrandschatzte Gotteshaus. Da steht auch die vierte Klasse der Kempener Knabenvolksschule. Ihr Lehrer Josef Bettels lässt die Zehnjährigen die Hand zum „Deutschen Gruß“ heben und ein „Kampflied“ anstimmen: „Die Fahne hoch…“ Nun setzt die Demolierung und Plünderung der jüdischen Geschäfte und Wohnungen ein. Aus der geschändeten Synagoge hat der SA-Sturmführer Ernst Sipmann den Gebetsstab des Rabbiners geraubt. Das ist ein etwa 60 Zentimeter langer, mit Sternen verzierter Stab, mit einer stilisierten Hand an seiner Spitze, mit dem beim jüdischen Gottesdienst der Vorlesende in der Schriftrolle die Worte verfolgt, die er aus Ehrfurcht nicht berühren will.

Seit 2015 wurden in Kempen und St. Hubert 85 Stolpersteine verlegt.

Foto: Norbert Prümen (nop)

Mit dem Tora-Stab als Wegweiser führt Sipmann seine NS-Rotte bei der Zerstörungs-Aktion an. Am Nachmittag fahren ein SA- und ein SS-Mann, die Kempener Brüder Heinz und Fritz Holtermann, mit einer Pferdekarre durch die Stadt. Triumphierend schwenken sie einen weißen Gebetsschal, einen Tallit, und rufen den Passanten zu: „Kiek ens, watt we-i van de Judde hebbe!“ („Guckt mal, was wir von den Juden mitgenommen haben!“)

Am Abend startet wie jedes Jahr am 10. November der St.-Martins-Zug. Die Straßen sind mit bunten Lichtern reichlich geschmückt. Wie immer werden die fröhlichen Lieder gesungen: „Oh, wat’ en Freud!“ Dann passieren die singenden Kinder an der Umstraße die abgebrannte Synagoge. Sie recken die Hälse; aber vor der Brandruine stehen noch Kempener Feuerwehrleute auf Brandwache. „Singen! Weitergehen!“, drängen sie. Im Protokoll des St.-Martins-Vereins ist von den beschämenden Ereignissen, die dieser Tag gebracht hat, freilich nicht die Rede, im Gegenteil: „Es war eine reine Freude für Junge und Alte“, heißt es da in der Rückschau.

Am 9. März 1939 kaufte die Stadt Kempen die abgebrannte Synagoge von der jüdischen Gemeinde an, am 5. Juni 1944 den mittlerweile vom Staat beschlagnahmten jüdischen Friedhof. Drei Jahre nach der Brandschatzung der Kempener Synagoge setzten die Deportationen ein, die 29 Juden aus Alt-Kempen und acht aus St. Hubert den Tod brachten, darunter zwei Kindern. Die Aktionen wurden mithilfe einer Kartei der Stadtverwaltung durchgeführt; Kempener Polizisten – damals noch dem Bürgermeister unterstellt – brachten die Todgeweihten zur Bahn. Die zurückgelassene Habe der Deportierten wurde öffentlich versteigert; in der Turnhalle der Mädchenoberschule an der Thomasstraße gegenüber der Burg, dem Vorgänger des späteren LvD-Gymnasiums. Aus der ganzen Stadt kamen die Kempener, um ein Schnäppchen zu ergattern.

Und die breite Bevölkerung? Fast alle haben die Verfolgung der Juden zugelassen, in der Regel auch unterstützt; einige durch aktives Mitmachen, die meisten durch Wegsehen oder Beschönigen der schändlichen Vorgänge. Zu den Verharmlosern gehörte auch der damalige Stadtarchivar Gottfried Klinkenberg, der nach Kriegsende – und da musste Auschwitz ihm ein Begriff sein – in seiner Stadtgeschichte schrieb: „Die Juden wurden nach Kriegsbeginn als feindliche Ausländer behandelt.“ Mehr wollte er zur Ermordung seiner Mitbürger nicht sagen.

In der Bevölkerung waren Vorurteile noch lange vorhanden. Wenn ein Kempener Anstreicher an einer Hauswand oder Tür eine Stelle übersah, nannte er den Fleck, den er da noch mal überstreichen musste, ganz selbstverständlich „einen Juden“. Dieser Sprachgebrauch hielt sich bis in die 1960er Jahre. Als 1980 Schüler des Gymnasiums Thomaeum eine Umfrage durchführten, stellte sich heraus, dass der größte Teil der Bevölkerung nicht einmal wusste, dass es an der Umstraße eine Synagoge gegeben hatte.