Impfen gegen die „braune Gefahr“
Sally Perel überlebte die NS-Zeit, weil er leugnete, Jude zu sein. Nun sprach er vor Schülern und rief sie auf, sich gegen Hass einzusetzen.
Kempen. Mit dem hebräischen Gruß „Schalom“ — Frieden — begrüßte Sally Perel die rund 150 Zehntklässler, die in die Aula der Erich Kästner Realschule gekommen waren. Für den Frieden zu werben, die deutschen Jugendlichen an die Geschichte ihres Landes zu erinnern und sie selbst zu kritischem Denken zu animieren, sind wichtige Anliegen des mittlerweile 90-jährigen Juden, der die Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland überlebt hat. Das wurde bei seinem Vortrag gestern deutlich.
Seine Geschichte ist als Buch erschienen und verfilmt worden. Nun war der Autor Sally Perel in den vergangenen Tagen zu Gast in Kempen. Erst sprach er anlässlich des Jahrestags der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz am Mittwochabend im Kulturforum Franziskanerkloster. Gestern war er erst im Thomaeum, dann in der Erich Kästner Realschule.
Er komme wieder gerne nach Deutschland und liebe die deutsche Jugend, sagt der 90-Jährige — und die deutsche Jugend liebe ihn. Das merke er auch an den vielen E-Mail und Facebook-Freundschaftsanfragen, die ihn erreichten. Dass er diese nicht mehr annehmen könne, liege daran, dass er schon 10 000 Freunde habe.
Er erinnerte sich an seine glückliche Kindheit in Peine — „ohne Handy, iPhones, Pokemon und diese blutigen Kimi-serien“, wie er den Schülern schilderte.
Doch dann wurde Adolf Hitler gewählt und umjubelt. Sally Perel erlebte die Zeit „unter der Haut des Feindes“, wie er sagt. Er leugnete, Jude zu sein, gab sich den Vornamen Josef und kam über Umwege an eine Schule für die Hitlerjugend. Eindringlich schilderte er den Schülern, wie gut die Beeinflussung mit Nazi-Ideologie auf ihn wirkte wie Gift. Kritisch denken konnten die jungen Menschen damals nicht mehr. Es sei eine der wichtigsten Aufgaben von Schule, zu kritischem Denken zu erziehen.
Jude und Nazi — beide Rollen musste er in sich vereinen, um nicht aufzufallen. Und er habe sich mit der Ideologie identifiziert — natürlich nicht mit der Auffassung, dass die Juden der Satan seien. Aber der Rest der Ideologie fing an, ihn zu überzeugen — und das nachhaltig. Noch heute führt er Dialoge mit sich selbst, streitet mit sich selbst. „Der Konflikt Jude und Nazi wird mich noch bis zu meinem letzten Tag begleiten“, so Perel. Neo-Nazis würden auch heute Hass schüren. Sie hätten aus der Vergangenheit nichts gelernt.
Er habe begeistert „Sieg Heil“ gerufen, auch wenn er in seinem Inneren wusste, dass das ein Sieg über sein Volk sein würde. In Auschwitz habe er die aufgestapelten Kinderschuhe gesehen. „Eineinhalb Millionen Kinder sind in Auschwitz vergast und zu Asche verbrannt worden“, sagt er. Er höre die Schreie, es lasse ihm keine Ruhe. Daher berichte er weiter und wolle impfen, gegen die „braune Gefahr“.
Er empfahl den Jugendlichen selbst die KZ-Gedenkstätte zu besuchen. Wer den Holocaust aus Unwissenheit leugne, sei ein „Dummkopf“, wer es wider besseren Wissens tue, sei ein „Verbrecher“. Er selbst werde berichten, so lange er kann. Und er rief die Jugendlichen auf, sich überall dafür einzusetzen, dass so etwas nicht noch einmal passieren kann.
An Gott, so sagt der Sohn eines Rabbiners, habe er viele kritische Fragen. Ein Schüler habe ihn mal gefragt, ob Gott auch in Auschwitz gewesen sei — schließlich sei Gott überall. „An einem Ort, an dem eineinhalb Millionen Kinder verbrennen, kann Gott nicht anwesend sein“, war seine Antwort. Die Abschiedsworte seiner Mutter waren „Du sollst leben“. Das habe ihn ermuntert, zu leugnen, dass er Jude ist und so überleben zu können. Einen Märtyrertod wolle er nicht sterben. Das Recht auf Leben stehe über allen anderen.