100 Kempener Jahre Tönisberger Jugend: Zeche, Star Wars und The Cure

Tönisberg · Peter Kunz wurde 1972 geboren und wuchs in Tönisberg auf dem Wartsberg auf. Die Bergarbeiter-Mentalität und die Gemeinschaft haben ihn geprägt.

In die Grundschule in Tönisberg ging Peter Kunz in den ersten beiden Jahren gern.

Foto: Peter Kunz

Wenn Peter Kunz heute aus dem Fenster seiner Wohnung sieht, blickt er auf das eiserne Gerüst, das ihm schon aus seiner Kindheit vertraut ist. Der Förderturm der Schachtanlage Niederberg 4 war schon fast zehn Jahre in Betrieb, als Peter Kunz 1972 geboren wurde.

Die Geschichte des Bergbaus in Tönisberg beginnt 1959. Da liefen die ersten Arbeiten für den vierten Schacht der Zeche Niederberg, das Steinkohlenbergwerk in Neukirchen-Vluyn. 1963 wurde der Schacht in Betrieb genommen und auf dem Mühlenberg wurden Häuser für die Mitarbeiter vor Ort gebaut. Die Wartsbergsiedlung entstand und damit verdoppelte Tönisberg, bis dahin rund 1400 Bürger, seine Einwohnerzahl. 2001 und 2002 wurde die komplette Schachtanlage Niederberg stillgelegt und Schacht IV verfüllt. 2015 wurden Förderturm, Schachthalle und Fördermaschinenhaus per Ministererlass unter Denkmalschutz gestellt. Peter Kunz, der sich im Förderverein Niederberg für den Erhalt der Zechengebäude einsetzt, erinnert sich an eine schöne Kindheit voller Freiheit, Abenteuer und Gemeinschaft auf dem Wartsberg.

In eines der kleinen Reihenhäuser, die dort entstanden, zog die Familie Kunz. Mit drei älteren Brüdern, die später wie der Vater und einige Onkel auch im Bergbau tätig waren, wurde er dort groß.

Legendäre Murmelbahnen sorgten für Spannung

Peter Kunz erinnert sich noch, wie er seinen ersten Bergmann in Montur sah. Mit Helm und in Arbeitsklamotten, schwarz im Gesicht kam er auf ihn zu, als Peter als Kind mit seiner Mutter zu Besuch auf dem Zechengelände war. „Erst als er näher kam, habe ich erkannt, dass das mein Vater war. Ich sehe ihn heute noch vor mir“, sagt Peter Kunz. Das Zechengelände hatte immer eine große Anziehungskraft für die Kinder und Jugendlichen. Was verboten ist, ist natürlich besonders spannend.

Während die Väter auf Zeche arbeiteten und sich die meisten Mütter zu Hause um den Haushalt kümmerten, waren die Kinder viel unterwegs. „Wir kannten hier jeden Stein und jeden Baum“, sagt Peter Kunz.  Mit Kreativität und Fantasie gestalteten die vielen Kinder auf dem Wartsberg ihre Freizeit. „Wir waren viel draußen. Langeweile kannten wir nicht.“ In den Wäldern bauten sie Baumhäuser und Höhlen, gingen auf die Suche nach Zauneidechsen, Blindschleichen oder Feuersalamandern. Es wurde Fußball gespielt und Wasserschlachten wurden geschlagen. „Wir haben Murmelbahnen gebaut, mit denen wir um 1000 Murmeln gespielt haben. Das war ein Erlebnis, da haben auch Erwachsene zugeguckt, das war Spannung pur.“ Als Star-Wars-Fan spielte Peter Kunz gerne mit Figuren und Raumschiffen der Film-Saga. Auch mit kleinen Plastiksoldaten, für die Schützengräben und Flüsse gebaut wurden, spielten die Kinder. „Wir haben auch Mist gebaut“, erinnert sich Kunz. Das gehöre zum Großwerden ja dazu. „Aber wenn man mal Mist gebaut hat, hat man dafür grade gestanden. Das ist unter Bergleuten so.“

Die Siedlung hatte in etwa die Größe wie heute. Auch wenn sich einiges verändert hat. „Wir hatten hier einen kleinen Rewe-Markt und eine kleine Trinkhalle, eine Pommesbude, in der man auch ‚Lecker’ kaufen konnte.“ Zwei Damen verkauften bei sich zu Hause ‚Lecker’ und Eis. Wenn man ein paar Pfennige übrig hatte, schaute man dort vorbei. Der Bücherbus kam regelmäßig. Dort konnten die Kinder nicht nur Lesestoff ausleihen, sondern auch Spielzeug kaufen. An Flummis, Jojos oder Pusterohre, um Erbsen zu schießen, erinnert sich Peter Kunz.

Im Ort wurden gerne Straßenfeste gefeiert, das Sommerfest vom Kleingartenverein war ein Highlight. „Es war eine Riesengemeinschaft hier. Man hat zusammengehalten. Man hat sich untereinander sehr geholfen“, erinnert sich Peter Kunz. Für die Kinder standen die Türen immer überall offen. Die bergmännische Mentalität hat ihm immer gefallen. „Man konnte sich die Meinung sagen, es gab kein Hintenrum. Man war hier immer geradeaus. Das hat mich geprägt.“

Im Fernsehen liefen tolle Sendungen für Kinder: Western von gestern, Dr. Snuggles, Captain Future, Lucy, der Schrecken der Straße und Pan Tau gehörten dazu. Schon früh hatte Peter Kunz angefangen, Musik zu hören und Platten zu kaufen. Die größeren Brüder machten es vor. Das Kinderzimmer schmückten daher Poster und Postkarten von Bands. Ein Fan war Peter Kunz zum Beispiel von The Cure.

Schon als Kind spürte er, dass eine Kluft zwischen Dorf und Bergarbeitersiedlung bestand. „Die da unten, die da oben“ hieß es. Später wurde ihm das noch deutlicher. Es gab Vorurteile gegenüber den Menschen vom Wartsberg, sagt Peter Kunz. Es habe Kinder gegeben, die mit den Kindern von oben „nicht spielen durften“.

Wenig Kontakt
zu Kempen

In die Grundschule ging Peter Kunz gern. Allerdings gab es da nach der zweiten Klasse einen Einschnitt. Als Linkshänder musste er bei einem neuen Klassenlehrer auf einmal mit der rechten Hand schreiben. Seine Schulkarriere hat das nachhaltig negativ geprägt. Nach der Grund- folgte die Hauptschule. Zuerst in Tönisberg, ab der siebten Klasse wurden die Schüler in St. Hubert unterrichtet. Das schönste waren für Peter Kunz die Klassenfahrten.

Sport und Geschichte waren seine Lieblingsfächer. Das Thema Zweiter Weltkrieg hat ihn immer fasziniert. „In der Schule hatte man das Thema zwar, aber der Holocaust wurde nicht so direkt angesprochen.“ Im Unterricht wurden seiner Klasse stattdessen die falschen Bilder gezeigt, findet Kunz. „Zum Beispiel vom Nürnberger Reichsparteitag – das fand ich faszinierend, als ich das gesehen haben. Diese Massen, diese Lichter, diese Fahnen.“ Erst später habe er sich selbst damit befasst und die grauenhaften Bilder des Holocaust gesehen. „Das hätte man uns damals in der Schule zeigen müssen. Im Nachhinein betrachtet, war die Aufarbeitung richtig schlecht. Man hat das Thema eher interessant gemacht, als deutlich zu machen, was da passiert ist.“

Seine Abschlussfahrt führte 1989 nach Berlin. Auch ein Erlebnis, das Peter Kunz nicht vergessen wird. Wenig später fiel die Mauer, was der Tönisberger im Fernsehen verfolgte. „Ich konnte es erst gar nicht glauben, weil alles so schnell ging.“

Seit 1970 war die vormals selbständige Gemeinde Tönisberg ein Stadtteil von Kempen. Zur Thomasstadt hatte der Tönisberger allerdings lange keinen Bezug. Erst zum Schulschwimmen kam er dorthin. Sonst lagen Neukirchen, Moers oder Krefeld einfach näher.

Während der Schulzeit absolvierte Peter Kunz ein Praktikum im Bergbau. Nach dem Abschluss begann er eine Ausbildung als Energieelektroniker auf der Zeche in Neukirchen, arbeitete auch unter Tage. Die Zeit dort und die Bergarbeiter-Mentalität haben ihn geprägt. Denn dort gilt: „Egal, wer man ist. Das ist unter Tage sind alle gleich.“