Neues Leben ohne die Familie
Trainings-wohnung: In der neuen Einrichtung in Lobberich lernen junge Leute, Krisen zu überwinden. Die Evangelische Jugend- und Familienhilfe leistet Beziehungsarbeit.
Lobberich. Der Schein trügt. So selbstbewusst tritt die hübsche junge Frau auf, als führe sie ein unbeschwertes Leben. Dabei hat die 19-jährige Sandra Schlimmes durchgemacht: Gewalt in der Familie, weg von Zuhause, Beziehungskrisen, vom Freund verprügelt, Krankenhaus. Aus schien der Traum von Glück und Karriere. "Dass ich jetzt ohne große Angst wieder selbstständig wohnen kann", gibt Sandra zu, "das hätte ich ohne Martina kaum geschafft."
Diese Martina Dietrich ist Sozialpädagogin der Evangelischen Jugend- und Familienhilfe - und hat gerade in Lobberich eine neue Trainings-Wohnung eingerichtet. Hier lernen junge Menschen in Krisensituationen, selbstständig zu wohnen und zu leben. Rund zwei Drittel von ihnen bekommen danach ihr eigenes Leben gut geregelt - wie Sandra.
Was Sandra geschafft hat, versucht jetzt Nicole (Name von der Redaktion geändert): Die 17-Jährige ist als erste in die Wohnung an der Hochstraße eingezogen, wird intensiv betreut von Martina Dietrich und ihrem Team. "Wir leisten hier Beziehungsarbeit. Nicole fängt so zu sagen ohne Familie ganz neu bei uns an", erklärt die Sozialpädagogin.
Martina Dietrich, Sozialpädagogin
Was konkret heißt, im Alltag bestehen lernen: Sich selbst Ziele setzen sowie Haushalt und Schule oder Ausbildung unter einen Hut bringen. "Sogar alleine aufzustehen oder pünktlich zu sein", so Martina Dietrich, "müssen manche erst lernen."
Nicole hat ein eigenes großes Zimmer in der Wohnung mit Küche, Bad und Besprechungsraum. Dazu kommt das Büro des Betreuungsteams. Vier Mitarbeiter der Jugendhilfe kümmern sich um die Bewohner, leisten von hier aus Sozialarbeit in der Region, betreuen zum Beispiel minderjährige Mütter.
Finanziert werden die pädagogischen Maßnahmen vom Kreisjugendamt, das für Nettetal (noch) zuständig ist. "Wenn die Probleme in der Familie nicht gelöst werden können, vermitteln wir junge Leute in solche Projekte", so Brigitte Jacobs, die beim Jugendamt für Erziehungshilfe verantwortlich ist. Intensiv betreutes Wohnen könne aber pädagogisch und finanziell "nur eine befristete Übergangslösung für ein paar Monate oder länger" sein.
Die Evangelische Jugendhilfe sieht einen wachsenden Bedarf an betreutem Wohnen; zu den vermuteten Ursachen gehören steigende Scheidungsraten, bröckelnde Familienstrukturen, Arbeitslosigkeit, Überschuldung - auch bei jungen Menschen. "Mit Geld umzugehen habe ich in Schule oder Familie nie gelernt", kritisiert Sandra. Sie empfiehlt Jugendlichen, sich bei familiären Problemen direkt ans Jugendamt zu wenden: "Vor Ämtern muss man keine Angst haben."
Einrichtung Die Evangelische Jugend- und Familienhilfe ist einer der größten Träger pädagogischer Einrichtungen am Niederrhein. 250 Mitarbeiter sind in der Erziehungshilfe, in Wohngruppen oder Familienprojekten tätig. Zu den 25 festen Einrichtungen kommen ambulante Dienste.
Nächstenliebe Auf der Basis christlicher Nächstenliebe unterstützt die Familienhilfe Mitmenschen in schwierigen Lebenssituationen. Religion, Alter oder Herkunft spielen dabei keine Rolle.
Region Im Kreis Viersen unterhält die Jugend- und Familienhilfe mehrere Wohngruppen, Stellen für Erziehungshilfen und Projekte wie das betreute Wohnen für Jugendliche in Nettetal. Die Einrichtung in Lobberich ist die 23.Trainingswohnung.
Kontakt Evangelische Jugend- und Familienhilfe gGmbH, Sebastianusstraße 1, 41564 Kaarst, Tel. 02131/92580.
Wenn die Familie kaputt ist, Jugendliche nicht mehr weiter wissen, springt das Jugendamt ein. Vermittelt einen Heimplatz oder eine Wohngruppe, hilft finanziell. Für Nettetal ist dabei das Kreisjugendamt in Viersen zuständig - am Doerkesplatz 1 a in Lobberich nur mit einem Sozialen Dienst als Außenstelle vertreten. Die bekannte Schwellenangst junger Menschen vor Ämtern und Behörden dürfte mit der Entfernung von Nettetal nach Viersen noch zunehmen. Zwar loben Einrichtungen wie die Evangelische Jugend- und Familienhilfe ausdrücklich die "gute Zusammenarbeit mit dem Kreisjugendamt", bewerten aber "natürlich ein Jugendamt direkt vor Ort als günstiger". Ein Argument mehr für die Stadt Nettetal, ihre Pläne für ein eigenes Jugendamt voranzutreiben.