Geschichten jüdischer Familien: „Wir sollten nicht schweigen“
Mit einer neuen Serie erinnert die WZ an die Geschichte jüdischer Familien aus der heutigen Stadt Willich.
Willich/Anrath. „Mit der sogenannten Kristallnacht am 9. November 1938 endete auch die Geschichte der Anrather Juden. Ein Alptraum des Leidens und der Gewalt in den Todesfabriken begann.“ Das schreibt Hans-Peter Enger, ehemaliger Vorsitzender des Anrather Bürgervereins, in seinem neuen Aufsatz über „Die jüdischen Mitbürger Anraths“. Dem fast 84-Jährigen ist es ein besonderes Anliegen, auf aktuelle antisemitische Aussagen ebenso aufmerksam zu machen wie die Verfehlungen des Naziregimes aufzuzeigen. „Wir sollen hierzu nicht schweigen“, sagt Enger, der als Kind selbst den braunen Terror in seinem Heimatort erlebt hat.
„Aus Gesprächen meines Großvaters mit meinen Eltern wussten wir damals schon von Massenerschießungen und Deportationen“, erinnert sich Enger im Rückblick. Das Fazit seines Großvaters sei gewesen: „Wir Deutschen wollen hier im Land nichts davon wissen, weil wir es nicht wahrhaben wollen.“
Als Kinder hätten Streifzüge rund um den Ort immer auch mal auf den jüdischen Friedhof in der Zisdonk geführt. Ein stiller, geheimnisvoller Ort sei das gewesen, inmitten von Buschwerk, Wald und Feldern. „Für uns waren die Gräber mit rätselhaften Inschriften und Symbolen nicht zu lesen, sie waren von Efeu umrankt.“ Heute, nach mehr als 70 Jahren, sei ihm bewusst, dass die Verlassenheit des Friedhofs Zeugnis für die schrecklichen Ereignisse der 30er und 40er Jahre ablegten, die die alte jüdische Gemeinde von Anrath ausgelöscht hätten.
Wie Enger in seinem Aufsatz berichtet, habe Anrath eine bedeutende jüdische Gemeinde gehabt, deren Geschichte weit über 400 Jahre zurückreichte. Diese Gemeinde habe nicht nur über einen eigenen Friedhof verfügt, sondern auch über eine Synagoge mit angeschlossener Schule an der Ecke Viersener Straße/Hindenburgstraße.
Von den deutschlandweiten Ausschreitungen der Pogromnacht 1938 seien diese Gebäude gänzlich verschont geblieben. Im Krieg habe man dort „Fremdarbeiter“ und französische Kriegsgefangene untergebracht, Anfang der 50er Jahre seien die Gebäude dann abgerissen worden. „Heute steht dort ein Wohnblock.“
Generell, so Hans-Peter Enger weiter, habe es in der „Kristallnacht“ keine Verwüstungen und Zerstörungen an jüdischen Häusern in Anrath gegeben. Er erinnert aber auch daran, dass in der Nacht zum 12. November 1938 die Fassade des Hauses der Familie Julius Servos am Markt 3 mit antisemitischen Sprüchen und dem Davidstern beschmiert worden sei. „Für alle in Anrath ersichtlich, hat Frau Servos am Sonntagmorgen, vor Beginn des Hochamtes, die Fassade mit Scheuerpulver und Bürste gereinigt“, so Enger. In einem Brief hatte sein Klassenkamerad Kurt Servos Jahre später darüber berichtet.
Kurt war der Enkel von Julius Servos und lebte damals mit seinen Eltern und seiner älteren Schwester ebenfalls in dem Haus am Markt. Die Familie flüchtete 1939 in die USA. Kurt Servos studierte Geologie und wurde 1967 Professor am Menlo Park College in Kalifornien. 1977 und 1985 besuchte er nochmals Anrath, untergebracht sei er im „Haus Donk“ gewesen, so Hans-Peter Enger. Bei seinen alten Schulkameraden habe er in langen Gesprächen ein neues Deutschland kennengelernt. „Kurt besaß als Opfer eine enorme Kraft: die Macht des Vergebens. Aber er sagte auch, dass vergeben nicht vergessen heißt“, erinnert sich Enger.
Kurt Servos starb 2008, kurz vor seinem 80. Geburtstag.