Wladimir-Kaminer-Lesung im Neersener Schloss: Türsteher der Nation
Auf Einladung der Willicher Stadtbücherei war der Erfolgsautor Wladimir Kaminer im Neersener Schloss und las aus seinem neuen Buch „Onkel Wanja kommt“.
Neersen. Es ist 22.15 Uhr an diesem Novembertag in Neersen, Nieselregen, 8 Grad plus und man sehnt sich nach Ferien mit Wladimir Kaminer in Neu-Brandenburg — gerne mit dessen Onkel Wanja und Kater Honnecker am lodernden Lagerfeuer.
Gerade hat man zwei Stunden lang die Gelegenheit gehabt, Familie, Alltag, Episoden aus dem Leben des schlitzohrigen Geschichtenerzählers Kaminers kennenzulernen. Der Autor, den die Russendisko (Kasten) berühmt gemacht hat, liest in der Motte des Schlosses vor gut und gerne 150 Zuhörern. „Ich freue mich, dass die ganze Stadt gekommen ist,“ grinst er und rollt im Verb genüsslich das russische R.
Kaminer braucht keine Aufwärmphase. Ohne erkennbare Nervosität plaudert er drauflos, kokettiert mit einem Humor der Harmlosigkeit, den er immer wieder in scharfzüngige Feststellungen münden lässt. Unpolitisch ist der Mann nicht. „Putin“, stellt er beispielsweise fest, „liegt wie eine Betonplatte auf der politischen Entwicklung Russlands.“
Kaminer ist einer, von dem man behaupten kann, dass er es geschafft hat — als munterer Grenzgänger zwischen zwei Kulturen. Der Mann ist nach 17, 18 erfolgreichen Büchern eine Marke, ein Kultur-Exportschlager, der im Ausland gerne als Repräsentant deutscher Literatur angekündigt wird. Das amüsiert ihn.
Kaminer ist so etwas wie der Türsteher der Nation. Ein Menschenbeobachter. Er schaut genau hin. Auf den deutschen Mann etwa, der erst nach einem 20 Essen-, 50 Wanderungen-und zig Liter Latte-Macchiato-Anlauf Kurs auf seine Herzensdame nimmt. Sogar sein Sohn, dreizehneinhalb, habe da schon direktere Anmachsprüche drauf: „Ey, war es Liebe auf den ersten Blick, oder soll ich noch mal vorbeikommen?“
Die Pubertät seiner Kinder, die Wehwehchen seines Onkels Wanja, sein Garten in Neu-Brandenburg, in dem Kaminer endlich die Problem-Phase „spontaner Vegetation“ in seinem einstigen Kleingartenidyll hinter sich lassen kann — davon erzählt und liest Kaminer. Lebensklug, smart, mit der Gelassenheit, die den Deutschen zu oft fehlt. Der Mann ist ein Profi der Pointe, er setzt sie ab, ohne als Selbstdarsteller zu landen. Er hat sichtlich Spaß an dem, was er tut. Er liebt seine Geschichten. Und das Publikum liebt sie auch. In der Pause gehen viele Bände mit Autogramm über den Büchertisch.
Nur unterhaltsam ist Kaminer nicht. Er zelebriert die Selbstironie, hält den Spiegel vor, regt das Nachdenken an. Etwa mit dieser Geschichte: Als in Russland das Urteil über die jungen Frauen von Pussy Riot gesprochen worden war, war Kaminer beruflich in St. Petersburg. Viele Anfragen westlicher Medien erreichten ihn. Alle wollten sein Statement. Ein russisches Kamerateam sorgte für das Bildmaterial — „ auf Wunsch des westlichen Senders sollte ich dabei vor einer Kirche stehen“, sagt Kaminer. „Das ist eine Schweinerei“, kommentierte er das Urteil in die Kamera. Als die wieder aus war, fragte ihn der russische Kameramann: „Und was denkst du wirklich?“
Kaminer wünscht sich als Grabbeilage Stift und Papier, damit er Geschichten aufschreiben kann, die ihm nach seinem Ableben einfallen. Dieser Gedanke wärmt wie ein Lagerfeuer in Neu-Brandenburg. Denn Kaminer hätte man noch viel länger zuhören können.