VHS-Vortrag in Schiefbahn Warum vertritt ein Migrant einen Nazi?

Schiefbahn · Der Kölner Jurist Mustafa Kaplan, der den Mörder des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke vor Gericht verteidigte, sprach in Schiefbahn darüber, was ihn zu seiner Arbeit motiviert.

Anwalt Mustafa Kaplan sparach unter dem Titel „Anwalt des Bösen“ darüber, warum er den Mörder Walter Lübkes vertrat. Es war ein eindrucksvoller Abend.

Foto: Norbert Prümen

(tg) Es war ein Fall, der vor vier Jahren bundesweit für Entsetzen sorgte: die Ermordung des Kasseler Regie­rungspräsidenten Walter Lübcke durch den fanatischen Neonazi Ste­phan Ernst, der den Politiker – ange­stachelt von blindwütigem Fremden­hass – für dessen liberale Haltung in der Migrationspolitik zur Rechen­schaft ziehen wollte. Zu seinem Pflichtverteidiger im folgenden Pro­zess erkor Ernst ausgerechnet einen Anwalt mit ausländischen Wurzeln: Mustafa Kaplan, der bereits zuvor Rechtsradikale und Salafisten sowie den türkischen Staatspräsidenten Er­doğan vor Gericht vertreten hatte. Als Teil der VHS-Vortragsreihe „Das Böse“ war Kaplan nun am Donnerstagabend zu Gast in der Bi­bliothek im Brauhaus in Willich-Schiefbahn und schilderte im bis auf den letzten Platz besetzten Vortrags­saal die Beweggründe seines Han­delns sowie seine Wahrnehmung des Mandanten.

Ausgangspunkt der Ver­anstaltung war Kaplans Lesung zweier Kapitel aus seinem im vergangenen Jahr erschienenen Buch „Anwalt der Bösen“, in denen er sein erstes Tref­fen mit Ernst im Hochsicherheits­trakt des Gefängnisses und die Ent­wicklung einer Argumentation zu dessen Verteidigung beschreibt. Dar­an schlossen sich jeweils Fragerun­den mit dem sichtlich aufgewühlten Publikum an.

Kaplan führte aus, dass ihn zum Teil menschliches Interesse am Ange­klagten dazu bewog, seine Verteidig­ung zu übernehmen: „Ich wollte wis­sen: wie tickt dieser Typ? Ich fand ihn äußerst interes­sant.“ In den Ge­sprächen habe sich erwiesen, dass eine zentrale Erklä­rung für Ernsts politische Radikali­sierung und sei­nen Hang zur Gewalt in sei­ner Kind­heit und Jugend zu su­chen sei, als er von seinem choleri­schen, alkohol­süchtigen Vater tyran­nisiert wurde: „Man muss sich das vorstel­len: ein Neo-Nazi erzählt unter Tränen einem türkischstämmi­gen Anwalt von sei­nem Vater.“ Letztlich habe diese Aufarbeitung bei Ernst ei­nen Pro­zess der Selbster­kenntnis und Reue in Gang gesetzt, so Ka­plan: „Ich habe daher als Mandant gerne mit ihm zusammengearbeitet.“ Zu­gleich betonte er, dass seine Ar­beit zur Wahrung rechtsstaatlicher Stan­dards beitrage: „Wir haben in Deutschland ein Rechtssystem, das seinesgleichen sucht. Jeder hat An­spruch auf juristi­sche Hilfe. In ei­nem Prozess mit so großer öffentli­cher Anteilnahme hat der Angeklagte nur mich.“

Als Ver­teidiger spiele man ebenso eine Rol­le wie Kläger, Richter und Staatsan­walt und versu­che, das bestmögliche Ergebnis für seinen Klienten zu er­zielen. Dazu gehöre die Einhaltung von Spielre­geln wie der, dass die Be­weislast stets bei der Anklage liegt oder, dass der Angeklagte in gewis­sem Maße lügen darf. Dass man sich mit dieser Arbeit bei einer Öffentlichkeit, die zu Vorverurteilun­gen neigt, nicht überall beliebt macht, scheint Ka­plan nichts anzu­haben: „Ich provo­ziere gerne. Mir ist klar, dass ich nicht Everybody‘s Darling bin.“ Während sich Ernst im Fall Lübcke geständig zeigte und 2021 für den Mord zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, konnte ihm dank Kaplans Ar­beit in zwei weite­ren An­klagepunkten keine Schuld nachge­wiesen wer­den.

Wie der intensive Austausch zwi­schen Anwalt und Publikum erwies, ist es nur mit Magenschmerzen mög­lich, die landläufige Vorstellung vom „Bösen“ mit der juristischen Praxis in Einklang zu bringen. Jeden­falls lehrte der Abend, dass kein Mensch als „Böser“ geboren wird. Justitia hat verbundene Augen: gerade denen gegenüber, die sie ver­achten.

(tg)