Lesetipp aus Tönisvorst Fünf Geschichten, fünf Schicksale – über die Kraft von Literatur

Tönisvorst · Carmen Alonso, die Leiterin der Tönisvorster Stadtbücherei, gibt unseren Lesern Literaturtipps. Dieses Mal: „Frau Komachi empfiehlt ein Buch“ von Michiko Aoyama.

Carmen Alonso leitet die Stadtbibliothek Tönisvorst.

Carmen Alonso leitet die Stadtbibliothek Tönisvorst.

Foto: Marc Schütz

Da wäre zum Beispiel Tomoka: Erwartungsvoll war die junge Frau zum Studium nach Tokio gezogen, in ihrem langweiligen Heimatdorf gab es nur Reisfelder, Reisfelder und nochmals Reisfelder. Doch die erhoffte Freiheit ist für die 21-Jährige bisher noch nicht eingetreten, und nach 30 Absagen arbeitet sie halt in einem Kaufhaus. Tomoka ist schüchtern, wagt sich beispielsweise nicht mehr in die Kantine, nachdem die Küchenkraft sie dort einmal angeraunzt hat.

Oder der arbeitslose Hiroya, der mit 30 noch bei seiner Mutter wohnt und sich vom Leben total überfordert fühlt; seine einzigen Freunde sind die Hauptfiguren aus seinen Lieblings-Mangas, von denen er sich verstanden fühlt. Und noch Natsumi, eine Zeitschriftenredakteurin, die nach der Geburt ihrer Tochter in einer beruflichen Sackgasse landet und sich im Spagat zwischen Kind und Arbeit schwerfällig fühlt wie klatschnasser Lehm.

So unterschiedlich die Lebenswege und Charaktere der Hauptfiguren auch sein mögen, alle habe einen Berührungspunkt: Eines Tages führt sie ihr Weg in das örtliche Gemeindehaus, einer Art Volkshochschule, um dort einen Kurs zu besuchen, der sie individuell weiterbringen könnte; vor Ort ergibt sich ein Besuch in der Bibliothek, passende Studien-Lektüre ausleihen. Dort treffen sie jeweils auf die Bibliothekarin, Samuri Komachi, die auf den ersten Blick aufgrund ihrer Erscheinung – groß, blass, keine Miene verziehend – einschüchternd wirkt. Doch ihre mit samtiger, melodiöser Stimme an jeden Ratsuchenden vorgetragene Frage „Was suchen Sie?“ öffnet erstaunlicherweise die Herzen. Die Fachfrau stellt – ratatata! – eine Liste mit empfehlenswerter Fachliteratur zusammen, inklusive einem unverlangten Überraschungs-Buchtipp und als „Zugabe“ sogar noch ein kleines, selbsterstelltes Filzobjekt: für Tomoka eine Bratpfanne oder eines in Katzenform für Hiroya.

Die Ausgabe dieser Maskottchen erfolgt rein nach Intuition, kann Samuri ja nichts wissen über die Menschen, die ihr da an der Ausleihtheke zum ersten Mal begegnen; die derart Beschenkten wissen erst nichts mit der Gabe anzufangen, aber jeder zieht nach einiger Besinnung doch etwas sehr Persönliches aus dem Lektüre-Tipp und dem kleinen Filz-Talisman. Es wird ihr Leben verändern! Bücher über Selbstoptimierung sind mir eigentlich suspekt; dieser Roman aber handelt nicht davon, in allem Perfektion erreichen zu müssen oder gesellschaftlichen Maßstäben zu entsprechen; sondern davon, sein eigenes Gleichgewicht und dadurch Lebensfreude und ein persönliches Glücksgefühl zu finden; jeder hat dabei sein eigenes Timing, und das ist es, was zählt – manchmal braucht es nur einen kleinen Anstupser. Dieses Buch, welches in Japan ein Besteller war und in über 20 Ländern erschienen ist, wird in wunderbaren Bildern und Episoden lebendig erzählt und bietet Einblicke in eine moderne Gesellschaft, den Ansichten zu Familie und Beruf und in das allgemeine Beziehungsgeflecht zwischen Menschen.

Gut gefallen hat mir natürlich auch die Darstellung der Atmosphäre in der Bibliothek, deren Hauptanliegen darin besteht, einen Ort zu schaffen, an dem die Bewohner des Viertels geschätzt werden, wo man sie willkommen heißt und zum Lernen anregt oder einfach um Spaß zu haben und sich zu entspannen.