„Mau-Mau-Siedlung“ wird 60

In der Memelstraße im Schiefbahner Südwesten wird am 10. Mai gefeiert.

Foto: Lübke, Kurt (kul)

Schiefbahn. Ehrhard Wolf war elf Jahre alt, als er mit seinen Eltern und fünf Geschwistern das neue Haus an der Memelstraße bezog. 57 Quadratmeter Wohnfläche hatte die Familie im äußersten Südwesten von Schiefbahn zur Verfügung, die obere Etage musste vermietet werden. Dafür ging es draußen umso weitläufiger zu.

Foto: Lübke, Kurt (kul)

Die Siedlung an der Memelstraße, wo sich als Eigentümer und Mieter ausschließlich Heimatvertriebene niederlassen durften, war eine so genannte Nebenerwerbssiedlung: Tagsüber schufteten die Familienväter in der Regel in einer Fabrik, auf ihren über 2 000 Quadratmeter großen Grundstücken betrieben sie, wie in ihrer Heimat, Ackerbau und Viehzucht, nur ein, zwei Nummern kleiner. Die Siedlung wird jetzt 60 Jahre alt; am 10. Mai wird groß gefeiert.

Foto: Lübke, Kurt (kul)

Die Nebenerwerbssiedlung Memelstraße ist auch ein Stück Nachkriegsgeschichte. „Mau-Mau-Siedlung“ wurde sie von den Einheimischen genannt — war abwertend war. „Gern gesehen waren wir nicht“, erinnert sich Ehrhard Wolf. Aber der 71-Jährige kann die Reaktion nachvollziehen: „Die Leute hier hatten ja auch nicht viel.“

Margrit Vaes geborene Gaulke (70) war zehn Jahre alt, als das Haus ihrer Eltern auf der Memelstraße bezugsfertig war. Woran sie sich besonders erinnert: „Die Menschen waren alle sehr fleißig. Sie hielten Kaninchen, Gänse, Tauben und Hühner, aber auch Schweine, bauten in ihren großen Gärten in erster Linie Rüben und Kartoffeln an.“

Wenn sie später als Handelsschülerin mittags nach Hause kam, stellte ihre Mutter Gerda sie vor die Wahl: „Was willst du saubermachen, Küche oder Schweinestall?“ Den Zusammenhalt in den Anfangszeiten hat sie als sehr gut in Erinnerung: „Nicht jeder konnte alles besitzen, deshalb hat man sich gegenseitig geholfen.“

Erhard Wolf weiß, dass die schlichten Siedlungshäuser auf sumpfiger Wiese errichtet wurden, deshalb wurde auf einen Keller verzichtet. Zudem mussten die Siedler viele Jahre auf eine asphaltierte Straße warten. Und auf einen Kanalanschluss sowieso — stattdessen gab es Kleinkläranlagen.

Der Exoten-Status der Flüchtlinge wurde durch ihre Konfession noch verstärkt: Viele waren nämlich evangelisch. „Die Sonntagsandachten fanden im Speisesaal der Verseidag statt“, erzählt Ehrhard Wolf. Margrit Vaes gehörte 1960 zu den ersten Konfirmanden, die in der neu errichteten Kirche an der Schwanenheide konfirmiert wurden.

Jürgen Alsters (68), Schriftführer der Straßengemeinschaft, stammt aus Krefeld — zog 1974 an die Memelstraße. Mittlerweile waren die Bürger dort längst im Ort etabliert.

Als Ludwig Schreiber, der viel für die Straßengemeinschaft getan hat, 1987 Schützenkönig wurde, gründeten Siedler spontan den Jägerzug Memelstraße, der immer noch besteht. Auch Ehrhard Wolf war schon Schützenkönig in dem Ort, der ihn einst nicht mit offenen Armen empfangen hatte. Ein Happy-End in der 60-jährigen Memelstraßen-Geschichte.