Serie zur Willicher Stadtgeschichte: Die Verfolgung der Juden Als Schiefbahns Synagoge brannte

Willich · Auch in den Altgemeinden der heutigen Stadt Willich hat es Judenverfolgung gegeben, wurden in der Pogromnacht jüdische Geschäfte und Wohnungen demoliert. In Schiefbahn brannte die Synagoge.

Die Kennkarte der Schiefbahner Jüdin Amalie Eleonore Rübsteck. Der Vorname „Sara“ wurde als demütigende Kennzeichnung der sogenannten „jüdischen Rasse“ beigefügt.

Foto: Stadtarchiv Willich

Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit bestimmte die Konfession das Leben. Den fundamentalistischen Christen des Mittelalters galten die Juden als „Mörder Gottes“. Aber es waren nicht Juden, sondern die römische Besatzungsmacht, die Christus ans Kreuz schlug, weil sie ihn als Aufrührer gegen Rom betrachtete. Dazu kamen wirtschaftliche Gründe und Neid. Da sie Nicht-Christen waren, wurden die Juden von Handwerk und Ackerbau ausgeschlossen. Andererseits bestand für die Christen ein Zinsverbot. So wurde den Juden das Kreditgeschäft, um leben zu können, zur Nische. Aber wer Rückzahlung und Zinsen verlangt, macht sich unbeliebt.

Ergebnis: Jahrhunderte hindurch wurde die jüdische Minderheit ausgegrenzt, und immer wieder kam es zu Ausschreitungen und Verfolgungen. Erst in der liberalen Weimarer Republik, die 1919 auf das Kaiserreich folgte, entstanden zunehmend private Kontakte, die die Barrieren zwischen jüdischer Minorität und christlicher Mehrheit durchbrachen. „Mit den Juden haben wir keine Freundschaften unterhalten, aber gute Bekanntschaften“, hat sich eine Zeitzeugin erinnert. „Wir haben sie nicht geliebt, aber akzeptiert.“ Ab 1933 ändert sich das. Unter der NS-Herrschaft wird Antisemitismus von Staats wegen betrieben. Unter dem Druck einer übermächtigen Propaganda, die die uralten Feindbilder von den „Gottesmördern“ und den „arbeitsscheuen Wucherern“ geschickt nutzt, kommt es allmählich zum Abbau moralischer Skrupel. Bald nach der „Machtergreifung“ tauchen an Gaststätten und Bauernhöfen die ersten Schilder „Juden unerwünscht“ auf.

1935 werden die Juden durch die Nürnberger Rassegesetze zu Menschen zweiter Klasse erklärt. Sie dürfen nicht mehr wählen, kein öffentliches Amt bekleiden, die Eheschließung mit Nicht-Juden ist ihnen verboten. Bald wird ihnen die Ausübung eines Berufs verboten. Wasser auf die Mühle zahlreicher Rassisten. In der Nacht zum 10. August 1935 wird dem Schiefbahner Heinrich Hügens, einem pensionierten Bahnbeamten, wohnhaft Neusser Straße 9, mit roter Farbe auf die Hauswand gepinselt: „Judenknecht, deine Stunde schlägt!“ Und wie wenn er noch in einem Rechtsstaat lebte, bittet der schwer behinderte Rentner um Polizeischutz: „Um in geregelten Verhältnisse leben zu können, musste ich mich nach einem Nebenverdienst umsehen. So bringe ich schon 14 Jahre für einen hiesigen jüdischen Viehhändler Kühe zu den Bauern; früher durchschnittlich vier- bis fünfmal im Monat und jetzt seit drei Monaten nicht ein Stück. Ich nehme an, dass hierin der Grund zu dieser Bedrohung ist.“

Mehr und mehr macht sich massiver Antisemitismus breit. Bernd-Dieter Röhrscheid und Udo Holzenthal haben in ihrem 2016 erschienenen, verdienstvollen Buch „Die Geschichte der Juden in Willich“ zahlreiche Beispiele dargestellt. Da wird 1936 in Anrath ein Gedenkstein für die gefallenen Soldaten des Ersten Weltkrieges 1914–18 aufgestellt. Auf ihm fehlt aber ein Name: Der des jüdischen Frontkämpfers Arthus Servos, 1915 gefallen. „1950 hat man ihn dann nachgetragen“, berichtet Röhrscheid.

Der größte Teil der Juden im Landkreis Kempen-Krefeld ernährt sich damals vom Viehhandel. Am 1. Oktober 1938 untersagt ihnen der Kempener Landrat Jakob Odenthal ihr Gewerbe. Kaum einer der eingeschüchterten Juden wehrt sich. „Siegfried Wallach war einer der Mutigen“, berichtet Willichs Stadtarchivar Udo Holzenthal. Der Viehhändler war in Schiefbahn ein angesehener Bürger, Mitglied im Gesangsverein Cäcilia. Wallach weigerte sich, die Einverständnis-Erklärung zu seinem Berufsverbot zu unterzeichnen, und floh. Später wurde er in Frankreich verhaftet und 1944 in Auschwitz ermordet.

Am 10. November 1938, vormittags zwischen zehn und zwölf, brennen auch im damaligen Landkreis Kempen-Krefeld, dem Vorgänger des heutigen Kreises Viersen, die Synagogen. Jüdische Wohnungen und Geschäfte werden demoliert. Hintergrund ist das Attentat eines durchgedrehten Siebzehnjährigen in Paris, drei Tage davor. Der siebzehnjährige Jude Herschel Grynzspan hat erfahren, dass seine Eltern und seine Schwester aus Deutschland ausgewiesen worden sind, weil sie die polnische Staatsangehörigkeit haben. Aber die Polen wollen sie auch nicht haben. Hilflos irrt die Familie im Niemandsland zwischen den Grenzpfählen hin und her. Auch für den jungen Herschel Grynzspan wird die Lage hoffnungsloser. Zurück nach Deutschland kann er nicht mehr. Voller Verzweiflung fährt er zur deutschen Botschaft. Am Eingang kommt ihm der Gesandtschaftssekretär Ernst vom Rath entgegen. Mit der Abschiebung hat er nichts zu tun. Im Namen der abgeschobenen Juden schießt er fünfmal auf sein Gegenüber. Am 9. November 1938 stirbt Ernst vom Rath.

Die hilflose Tat liefert den deutschen Nationalsozialisten den willkommenen Vorwand für eine Aktion gegen die verhassten Juden. Ernst vom Rath stirbt ausgerechnet an jenem Tag, an dem im ganzen Deutschen Reich die Erinnerung an den gescheiterten Münchener Hitler-Putsch vom 9. November 1923 begangen wird: Überall sitzen die „Alten Kämpfer“ und ihre Mitläufer in den Parteilokalen, erinnern sich an die aufregende Zeit vor der „Machtergreifung“ und bechern. Kein Problem, sie zu aktivieren. Eigentlicher Anstifter der anschließenden Ausschreitungen wird der damalige Propagandaminister Josef Goebbels. Seine Anweisungen werden über die Telefonleitungen von NSDAP, SA, SS und Polizei an die örtlichen Dienststellen weitergegeben. Mit einiger Verzögerung kommen sie morgens um acht bei der Kempener Kreisverwaltung an und werden umgehend an die örtlichen Partei- und Polizeidienststellen weiter gegeben.

Zum Beispiel nach Schiefbahn. Hier werden am Vormittag des 10. November 1938 die jüdischen Wohnungen und Geschäfte verwüstet. Ein Nachbar, der damals, nach dem Krieg, ungenannt bleiben wollte, hat sich an das Wüten der SA-Männer im Haus von Sophie Rübsteck am Alten Markt, heute Tupsheide 3, erinnert: „Sie schlugen die Bilder und Vasen entzwei. Sie stellten einen Stuhl vor den Büffetschrank und kippten den Schrank dann auf den Stuhl, so dass der Schrank mitsamt dem Stuhl zerbrach und das im Schrank befindliche Porzellan und Kristall zertrümmert wurde. Nichts war unbeschädigt geblieben. Es sah katastrophal aus.“ Auch nach der Pogromnacht suchen SA-Leute noch jüdische Wohnungen heim. Die Schiefbahner Synagoge am Tömp wird in Brand gesteckt und brennt lichterloh bis in den späten Nachmittag. Später werden Schulkinder an den Ruinen vorbeigeführt: „Das Volk hat gesprochen!“ Der jüdische Friedhof am Bertzweg wird mehrfach geschändet.

Die einzige jüdische Familie in Alt-Willich sind zu dieser Zeit die Lions an der Bahnstraße, wo Artur Lion eine Viehhandlung führt (Bahnstraße 11), wo Ernst Lion eine Metzgerei betreibt (Nr. 9). Auch hier kommt es zu Zerstörungen, und zweimal werden die wieder eingesetzten Fensterscheiben erneut eingeworfen. Der benachbarte Handwerker, der bei der Reparatur geholfen hat, wird behördlich verwarnt. Von einigen eingeworfenen Fensterscheiben abgesehen, übersteht der jüdische Gebetsraum in Anrath (Hindenburgstraße 2) die Pogromnacht ohne Schaden. Der Grund für die Verschonung: Sein Erdgeschoss wird von einer katholischen Familie als Wohnhaus genutzt. Aber SA-Männer rauben die Thora-Rolle, in der die fünf Bücher Moses aufgeschrieben sind, und verbrennen sie. Erst nach dem Krieg wird das Haus einem Neubau weichen.

In der Nacht zum 13. November, einem Sonntag, wird die Hausfassade der jüdischen Familie Servos in Anrath, Marktplatz 3, mit einem Davidstern und Hetzparolen beschmiert. Am darauf folgenden Vormittag, während die Besucher der benachbarten Kirche aus der Messe kommen, entfernt Ilse Servos (39), die Ehefrau des Hausbesitzers Albert Servos, die Schmierereien mit Seifenwasser und einer Bürste, auf ihre Hände und Knie gestützt. Den Gottesdienstbesuchern ist das sichtlich peinlich; Ilse Servos ist unter ihnen aufgewachsen. Einige Anrather haben nun Angst, die Familie Servos durch deren Haustür zu besuchen, so dass man sie sehen kann. „Andere aber, die den Machthabern trotzten, kamen voller Mut und Stolz durch den Vordereingang“, hat Ilse Servos‘ Sohn Fritz später berichtet.

Der Handvoll Juden, die in Neersen leben, geschieht nichts. Zwar wirft ein Rabauke, der allerdings mit den Nazis nicht zu tun hat, einer alten Frau die Fenster ein, aber die empörte („arische“) Hausbesitzerin zwingt ihn, die Scheiben eigenhändig wieder einzusetzen. Jüdische Kinder dürfen 1938 nach der Pogromnacht nicht mehr gemeinsam mit „Ariern“ in der Schulbank sitzen, darunter die 15-jährige Margot Rübsteck aus Schiefbahn. Bis dahin hat sie die Ricarda-Huch-Schule in Krefeld besucht. Ein Jahr später gelingt ihr die Flucht nach Amsterdam, wo sie überlebt.