Schauspielhaus Düsseldorf Eine Odyssee nach Norden
Regisseurin Lara Foot adaptiert mit ihrem Kapstadter Ensemble das Buch „Leben und Zeit des Michel K.“ berührend für die Bühne.
Die wohl längste Vorbereitungszeit des Düsseldorfer Schauspielhauses führte am Wochenende zu einer Premiere: Drei Jahre dauerte es, bis „Leben und Zeit des Michael K.“ endlich auf der Bühne gezeigt werden konnte. Schuld an dieser beinahe unglaublichen Verzögerung ist natürlich die Pandemie. Als dann im Juni die in Südafrika entstandene Inszenierung als Livestream von Kapstadt nach Düsseldorf übertragen wurde, war die Begeisterung groß, ebenso die Vorfreude aufs reale Spielerlebnis.
Hinter dem Titel des Stücks steckt ein Roman. Der südafrikanische Schriftsteller und Nobelpreisträger J. M. Coetzee erzählt darin von den politischen Unruhen in seinem Land, die nach dem Massaker von Soweto 1976 eskalierten und bis weit in 1980er-Jahre hinein zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen führten. Das war die Zeit des Michael K., der mit einem Makel zur Welt kam: Er hatte eine Hasenscharte. Auch war er im Kopf nicht der Hellste. Um ihn zu schützen, und weil seine Mutter, die tagein, tagaus die Böden weißer Herrschaften schrubbte, keine Zeit für ihn hatte, kam Michael in das „Huis Norenius“ in Sea Point, einem Teilort Kapstadts.
Mit der Geburt Michaels beginnt ein unglaublich anrührender Theaterabend. Das Neugeborene und später der erwachsene Michael erscheinen als Holzpuppen. Auch die Mutter ist eine Puppe, später kommen noch Kinder und sogar eine Ziege hinzu. Geführt werden die Puppen von Spielern der Handspring Puppet Company. Schon bald nimmt man den knapp ein Meter großen Michael mit seinen fein geschnittenen Zügen und der deutlich sichtbaren Lippenspalte nicht mehr als Puppe sondern als lebendigen Protagonisten wahr.
Diese Wahrnehmungsart ist es auch, die das Publikum unmittelbar in ihren Bann nimmt, um es dann für die gesamte zweieinhalbstündige Spielzeit nicht mehr loszulassen. Wie anders denn durch eine Puppe sollte Michael auf die Bühne treten, der Außenseiter, der in der von Gewalt und Unterdrückung, Ausbeutung und Rassismus geprägten Gesellschaft Südafrikas immer wieder zum Opfer wird. Es ist die ideale Besetzung für jemanden, der als Ausgestoßener, durch die Wirren des Krieges Irrender, niemals mehr sein kann als ein Spielball der Verhältnisse.
Land wird in einem langen Prozess zu Regenbogen-Nation
Um dieses Irren durch die Verhältnisse geht es in Coetzees Roman und auf der Bühne. Gerade als Michael glaubt, einen Platz in der Gesellschaft gefunden zu haben, erhält er eine Botschaft: seine Mutter liegt im Krankenhaus, er soll kommen und sie abholen. Ihr Traum ist es nämlich, an den Ort ihrer Kindheit zurückzukehren. Aufs Land, auf die Farm, wo sie glücklich war. Doch so einfach waren die Verhältnisse damals nicht, bevor das Land in einem langen Prozess zu einer Regenbogen-Nation wurde. Um die ausufernde Binnenmigration zu begrenzen und weiteren Unruhen vorzubeugen, wurde jeder Schwarze gezwungen, sich für Reisen im Land eine polizeiliche Genehmigung zu besorgen. Als Michael es nicht schafft, ein solches Dokument beizubringen, setzt er seine Mutter in einen selbstgebauten Karren und macht sich zu Fuß auf den Weg. Es beginnt eine letztlich im Kreis führende Odyssee nach Norden. Es ist ein Wahnsinn, zu Fuß die nicht enden wollende Halbwüste Karoo durchqueren zu wollen. Doch és ist gleichzeitig eine Pflichtaufgabe für Michael, der hierin seinen wahren Lebenszweck erkennt: „Er war auf die Erde gebracht worden, um sich um seine Mutter zu kümmern.“
Für die Regisseurin Lara Foot war klar, dass sie sich eng an die Romanhandlung halten wollte. Man könnte auch sagen: Sie erzählt den Roman schlicht mit den Mitteln des Theaters, zu denen hier neben den Puppen auch projizierte Filmaufnahmen von südafrikanischen Landschaften gehören. Was anderswo als Romanadaptation vielleicht zu bieder wirkt, hier passt es. Die Puppenspieler und das übrige Ensemble verleihen dem oft kruden Geschehen immer wieder Momente von Zärtlichkeit und Wärme. Diese Migrationsballade, diese mit kleinen Wundern angefüllte Wanderkiste, wirkt wie aus der Zeit gefallen. Es gab sie ja schon immer, die großen Wandergeschichten. Nach der Antike waren es die Pilger, die abends in den Herbergen von wahren und dazu erfundenen Schrecken erzählten. Geoffrey Chaucers „Canterbury Tales“ sind dafür das beste Beispiel. Näher an Coetzees Romanfigur ist Grimmelshausens „Simplizissimus“, wo mit kindlicher Einfalt von den Schrecken des Dreißigjährigen Krieges erzählt wird. Ist diese Einfalt auch kennzeichnend für Michael K.? Die Antwort ist nein. K. ist keineswegs einfältig. Bei allem, was dem aufgrund seiner Verunstaltung Ausgestoßenen passiert, er selbst handelt nach den Grundsätzen einer angeborenen Humanität. Erzählt wird die Handlung aus wechselnder Perspektive in Englisch, Afrikaans und einigen Brocken Xhosa, in Düsseldorf durch ein Schriftband übersetzt. Besonders im ersten Teil gibt es viele anrührende und auch humorvolle Momente, die der Kunst dieses südafrikanischen Ensembles zu verdanken sind. Ein Besuch der wenigen in diesem Jahr noch vorgesehenen Vorstellungen ist zu empfehlen. Die Regisseurin Lara Foot leitet in Kapstadt das große Baxter Theatre Centre. In diesen Corona-Zeiten ist sie besonders glücklich über das Gastspiel am Rhein.