Warum sind Sie erst die erste Antisemitismusbeauftragte des Landes NRW? War dieses Amt vorher nicht nötig?
Auftakt der „Düsseldorfer Reden“ „Der Antisemitismus ist aus unserer Gesellschaft nie verschwunden“
Interview | Düsseldorf · Die FDP-Politikerin ist die erste Antisemitismusbeauftragte des Landes NRW. Zum Auftakt der „Düsseldorfer Reden“ spricht sie am Sonntag im Schauspielhaus über ihre Erfahrungen.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Vor vier Jahren beschloss der Landtag, eine Antisemitismusbeauftragte zu bestellen. Schon damals mussten wir einen permanenten Anstieg antisemitisch motivierter Straftaten verzeichnen. Aber auch Übergriffe auf Menschen, die eine Kippa und den Stern als Kette trugen. Solche Entwicklungen wurden auch an Schulen wahrgenommen, etwa mit Beschimpfungen wie „Du Jude“.
Und das ist fast 80 Jahre nach dem Massenmord an den Juden nicht aus den Köpfen der Menschen verschwunden?
Leutheusser-Schnarrenberger: So viele Jahrzehnte nach der Shoa muss man selbst in einer so gefestigten Demokratie wie der unsrigen feststellen, dass der Antisemitismus aus unserer Gesellschaft im Grunde nie verschwunden ist. Er war in den ersten Jahrzehnten der jungen Bundesrepublik vielleicht nach außen hin noch wenig wahrnehmbar, aber sehr wohl vorhanden. In dieser Zeit hat man sich nicht mit Prävention beschäftigt; man ist wohl damals davon ausgegangen, dass nach diesen fürchterlichen Menschheitsverbrechen der Nazi-Zeit Antisemitismus nicht mehr existieren könne. Wir sind eines Schlechteren belehrt worden. Antisemitismus ist mit so vielen Stereotypen belegt, dass heute auch in Deutschland sogar junge Menschen antisemitisch sind.
Wie wirkungsvoll sind denn dann eigentlich alle Aufklärungsbemühungen gewesen? Zweifeln Sie selbst manchmal an der Nachhaltigkeit solcher Arbeit?
Leutheusser-Schnarrenberger: Ja, manchmal zweifelt man zumindest an dem Satz, der viele Jahre gültig zu sein schien: dass man doch aus der Geschichte lernen könne, solle, müsse. Zumindest das stimmt: Historische Ereignisse wiederholen sich nicht mehr im gleichen Maße. Und doch ist es auch zutreffend, dass unter gänzlich anderen Bedingungen Antisemitismus sich auch im 21. Jahrhundert ausbreitet. 2021 ist das traurige Jahr, in dem die Zahl antisemitisch motivierter Straftaten mit über 3000 die Höchstzahl der vergangenen Jahre hierzulande erreicht wurde; in Nordrhein-Westfalen waren es 440.
Was sind die Ursachen für diese Entwicklung?
Leutheusser-Schnarrenberger: Man hat früher einfach zu wenig getan, um auch die Strukturen zur Prävention zu verbessern. Zum einen muss man auf Vorfälle natürlich reagieren können; doch viel wichtiger ist die Prävention, um Antisemitismus gar nicht erst entstehen zu lassen.
Muss man mit immer größer werdendem Abstand zur Shoah vielleicht auch neue Formen und Wege der Aufklärung finden, zumal inzwischen kaum noch Zeitzeugen leben?
Leutheusser-Schnarrenberger: Die Erinnerungskultur hat sich grundlegend entwickelt. Inzwischen werden etwa die Besucher von Gedächtnisorten viel stärker mit digitalen Angeboten in die jeweiligen Ausstellungen mit einbezogen. Eins ist doch in den vergangenen Jahren ganz klar geworden: Geschichtswissen zu vermitteln, ist ganz wichtig und grundlegend. Doch selbst die fürchterliche Zahl von sechs Millionen ermordeter Juden in der Nazizeit prägen noch nicht das Bewusstsein für das eigentliche Grauen und für das, was an Ideologie dahintersteckt. Man muss junge Menschen anders ansprechen und an der Vermittlung stärker beteiligen. Dazu gehört unbedingt auch das Wissen über jenen Antisemitismus, den es heute gibt. Dazu gehören also auch manche Corona-Demonstrationen, die ebenfalls von antisemitischen Motiven gespeist werden. So wird den Juden vorgeworfen, sie seien verantwortlich für das Virus und würden mit dem Impfen das große Geld verdienen.
Zu den neuen Formen zählt ja auch der linke Antisemitismus sowie die Israel-Boykott-Bewegung des BDS (Boykott, Desinvestition und Sanktionen), der sich auch berühmte Künstler in Solidarität mit den Palästinensern angeschlossen haben.
Leutheusser-Schnarrenberger: Gerade mit der BDS-Bewegung ist es manchmal schwierig, eine klare Linie zu ziehen, wann eine Kritik an israelischer Politik einfach legitim ist und wann diese Kritik nur dazu benutzt wird, um antisemitische Stereotype zu bedienen. Das hat sich – etwa mit den Boykottaufrufen – erst in den vergangenen Jahren so entwickelt. Das trifft auf Zuspruch auch in Deutschland, besonders bei jenen, die ihren Blick einseitig auf die Lage der Palästinenser richten.
Was haben Sie gedacht bei den Worten Wladimir Putins, er wolle die Ukraine mit dem Krieg entnazifizieren?
Leutheusser-Schnarrenberger: Das war für mich an Unverschämtheit, Skrupellosigkeit und Geschichtslosigkeit nicht mehr zu überbieten. Für mich war das ein Schock. Wenn man vor einer solchen Behauptung nicht zurückschreckt gegenüber einem Präsidenten, der selbst Jude ist und dessen Familie Verfolgung erlitten hat, dann zeigt es einfach doch, dass Putin jedes Mittel recht ist, seinen geopolitischen Wahn und seinen Hass gegen den Westen zu begründen.
Haben Sie die Hoffnung, dass der Zentralrat der Juden in Deutschland irgendwann einmal Zentralrat der deutschen Juden heißen könnte?
Leutheusser-Schnarrenberger: Nein, ich glaube, das wird nicht kommen. Und es ist auch gut so, denn wir haben seit 1990 viele Juden in Deutschland, die aus den Staaten Osteuropas gekommen sind. Von daher finde ich den Namen Zentralrat der Juden in Deutschland richtiger, weil er alle Menschen dieser Religion unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit einbezieht.