80 Jahre alt — für einen Tag

Die junge WZ-Autorin Gabriele Schulz hat sich in einen Anzug stecken lassen, der simuliert, wie sich das Alter anfühlt.

Mönchengladbach. Wie fühlt sich eigentlich ein älterer Mensch? Um dieser Frage nachzugehen, bin ich für einen Tag in den Alterssimulationsanzug „Alternator“, der im Herbst 2011 von neun Textilstudenten der Hochschule-Niederrhein im Auftrag von Polizeihauptkommissar Erwin Hanschmann entwickelt wurde, geschlüpft.

Im Polizeipräsidium hilft mir Erwin Hanschmann in den schweren, blauen Anzug. Ich trage neun Kilo Gewichte im Oberteil. Dazu kommen weitere fünf Kilo in der Hose.

Ich ziehe die dicken Handschuhe an, die simulieren, dass ältere Menschen häufig kein Gefühl an den Fingern haben. Dann setze ich die Kopfhörer auf, mit denen ich nur zu 40 Prozent höre. Zu dem Anzug gibt es drei Brillen. Eine mit Gelbstich, eine mit der man sehr verschwommen und eine mit der man nur auf einem Auge sieht. Ich entscheide mich für die „harmlosere“ Version, den Gelbstich.

Los geht’s. Doch schon die ersten Schritte bremsen meinen Elan. Weil der Anzug so schwer ist, gehe ich viel langsamer. Tatsächlich wartet der Busfahrer so lange, bis ich zum Bus geschlichen komme. Ob er das wohl für alle Senioren tut? Das Ein- und Aussteigen fällt zwar etwas schwer, geht aber.

Am Bahnhof angekommen, brauche ich gefühlte 15 Minuten durch den Hauptbahnhof zu einem Supermarkt Penny-Markt, wo ich meinen Einkauf erledigen möchte. Nach dem Pudding im Regal greifen? Die Gewichte machen es schwer. Um mich zur Butter zu bücken, gehe ich langsam in die Hocke.

Am schwierigsten ist es, mit den dicken Handschuhen die kleine Plastiktüte auseinanderzubekommen, um das Obst hineinzutun. Dann der Gang zur Kasse. Der Ort, wo sich oft laute Seufzer der Jüngeren hören lassen, wenn wieder eine „Oma“ minutenlang in ihrem Geldbeutel nach Münzen fischt. Ich verstehe jetzt, wie kompliziert es mit 80 Jahre alten Fingern sein muss, das Geld aus dem Portemonnaie zu holen.

Auf zur nächsten „Senioren-Aktivität“. Ich will mich mit meinen Freundinnen Sonja Winkler, 33 Jahre alt, und der 27-jährigen Theresa Rademacher auf einen Kaffee bei Heinemann treffen. „Kannst Du mal kurz Sonja anrufen, wo sie steckt?“, bitte ich Theresa. Es hätte fünf Minuten gedauert, mein Handy aus der Handtasche zu holen und die kleinen Tasten zu drücken. Wir machen uns auf den Weg.

„Du sprichst etwas laut“, bemerkt Theresa direkt. Klar — ist ja auch kein Wunder, da ich nur 40 Prozent verstehe. Die Mädels erzählen von ihren Jobs als Heilerziehungspflegerin und Grundschullehrerin und von Karneval.

Auf der Straße kann ich sie sehr schlecht verstehen, auch wegen der Nebengeräusche, im Café geht es etwas besser. Milchcafé mit den dicken Handschuhen umzurühren, ist eine echte Herausforderung. Das Bezahlen ist wieder eine Geduldsprobe.

„Das ist ein Fünf-Euro-Schein“, sagt die Kellnerin sehr langsam und deutlich und hält mir den Schein direkt unter die Nase. Das hatte ich gerade noch selber gesehen — trotzdem vielen Dank.

Sonja und ich verabschieden uns von Theresa und gehen shoppen. Da der Anzug so dick ist, kann ich nur Mäntel anprobieren. Es ist anstrengend, mit den schweren Armen in die Mäntel hereinzukommen. Ich bin froh, dass die Verkäuferin und Sonja mir dabei helfen. Nach dem Tag bin ich so gerädert, dass ich mit dem Taxi nach Hause fahre.

Zuhause kämpfe ich mit den dicken Handschuhen beim Brote schmieren. Das dauert doppelt so lange wie sonst. Ich gehe mit den Spezialschuhen durch die Wohnung und fühle mich, als würde ich auf Erbsen laufen.

„So fühlen sich viele alte Menschen, wenn sie gehen“, hatte mir Erwin Hanschmann erklärt. Zum Schluss teste ich die Brillen beim Fernsehen. Mit dem Gelbstich geht es. Mit nur einem Auge, das ist lästig. Und mit der Verschwommen-Brille erkenne ich nur Umrisse. Jetzt reicht’s. Ich ziehe den Anzug aus und bin heilfroh, dass ich wieder jung bin.