Analphabetismus: „Mein Kind kann lesen, ich nicht“

Kaum einer weiß: Hanna (41) kann nicht lesen. Dafür sorgen viele Ausreden.

Mönchengladbach. Vor jedem Arztbesuch hat Hanna panische Angst. "Ich bekomme einen hochroten Kopf, fange an zu schwitzen", erzählt sie. Die 41-Jährige fürchtet aber nicht die Diagnose, oder dass es weh tun könnte. Sie hat Angst davor, dass man ihr ein Formular gibt, das sie ausfüllen oder durchlesen muss. Denn dann könnten alle in der Praxis bemerken, dass Hanna das nicht kann. Nicht schreiben und auch nicht lesen. Sie ist Analphabetin.

"Meine Eltern haben mich nicht zur Schule geschickt, wenn ich nicht wollte, und welches Kind will das schon", erzählt Hanna (Name von der Redaktion geändert). Ihre Lehrer hätten zwar bemerkt, dass sie weder lesen noch schreiben kann, doch niemand habe sich darum gekümmert. Ebenso ging es Karin (49). Wie Hanna verließ sie ohne Abschluss die Schule und arbeitet seither als Hilfskraft oder Putzfrau. Ihre Kollegen wissen nicht, dass sie Analphabetin ist. Bis auf die Chefin. "Sie hat es vor zwei Jahren irgendwie rausbekommen und gesagt, entweder ich gehe in einen Schreib- und Lesekurs oder ich müsse gehen", erzählt die 49-Jährige. Seit dem ist sie in einem Kurs der Volkshochschule.

Hanna stieß vor anderthalb Jahren dazu. "Ich will endlich meinen Kindern helfen können", erklärt sie. Wenn bisher Hilfe bei den Hausaufgaben gefragt war, musste stets eine Ausrede her. "Ich sag dann, dass ich gerade keine Zeit hätte oder so", berichtet sie. Dass ihre Mutter Analphabetin ist, sollen sie auf keinen Fall wissen. Das zu verstecken ist aber nicht einfach. "Im Ausreden erfinden bin ich super", sagt Hanna mit bitterem Unterton. "Ich hab’ die Brille vergessen" ist eine der gängigsten.

Hanna (41)

Ebenso wichtig: Das Auswendiglernen. Es fängt bei den Verpackungen von Lebensmitteln an, reicht über Straßennamen und Fahrpläne bis hin zum Aussehen bestimmter Wörter, beispielsweise "Schnitzel". Findet Hanna es in einer Speisekarte im Restaurant, tut sie so, als lese sie den Rest und bestellt das Schnitzel.

Doch trotz aller Tricks ist für Analphabeten vieles nicht machbar. Zum Beispiel alleine in eine fremde Stadt fahren. "Da muss mein Mann mit", sagt Hanna. Andere um Hilfe bitten? "Das trau ich mich nicht", wehrt Hanna ab.

"Ich geb offen zu, dass ich nicht schreiben kann", sagt Thomas. Der 36-Jährige war auf einer Schule für Behinderte. Lesen und schreiben lernte er erst mit 16 Jahren. Doch das Schreiben fällt ihm weiter schwer. Daher besucht er den gleichen Kurs wie die Frauen.

Kein Einzelfall Über vier Millionen Menschen in Deutschland können nicht richtig lesen und schreiben, schätzt der Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung. Er orientiert sich an verschiedenen Studien.

Alpha-telefon Unter der Telefonnummer 0251/533344 ist der Verband jederzeit zu erreichen. Er gibt Betroffenen und Angehörigen von Analphabeten Tipps, wo in welcher Stadt Kurse stattfinden, in denen Lesen und Schreiben gelehrt wird.

Lokale Hilfe Die Volkshochschule Mönchengladbach bietet zehn Lese- und Schreibkurse pro Woche für Analphabeten an. Weitere Informationen hat die VHS, Haus Berggarten, Lüpertzender Straße 85, Tel. MG 256404; oder Zweigstelle Rheydt: City-Haus, Mühlenstraße 2 -4, Tel: RY 258300.