Fachtagung mit 200 Experten in Düsseldorf Morddrohungen und Todeslisten - So groß ist die Gefahr von rechts
Düsseldorf · Ein Londoner Forscher mahnt bei der Fachtagung in NRW, Morddrohungen ernst zu nehmen. Innenminister Reul nennt Rechtsextremismus die größte Gefahr neben dem Islamismus.
Im Grunde hält NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) nichts von der allgemeinen Panik angesichts angeblicher Todeslisten. „Diese Problematik wird völlig überbewertet“, glaubt er. Es gehöre schließlich nicht viel dazu, eine Aufstellung ungeliebter Namen ins Internet zu blasen. Doch bei den Morddrohungen der „Atomwaffen Division“ (AWD) gegen die Grünen-Politiker Claudia Roth und Cem Özdemir ist er anderer Auffassung: „Das ist eine andere Qualität.“ Der Londoner Professor Peter Neumann gibt ihm da Recht: „Dahinter steht eine Organisation, die existiert und die bereits Menschen nach genau diesem Schema umgebracht hat.“ Und zwar neun in den USA.
Durch die jüngsten Enthüllungen um die AWD-Todesliste stand die Fachtagung zum Thema Rechtsextremismus, zu der das Innenministerium am Montag nach Düsseldorf eingeladen hatte, unter unerwartet aktuellen Vorzeichen. Reul berichtet am Rande der Veranstaltung, auch selbst vielfach Beleidigungen und Todesdrohungen erhalten zu haben. In welcher Größenordnung, verrät er nicht. „Ich will den Jungs nicht noch das Geschäft besorgen“, erklärt er. Heißt: deren Angstmacherei nicht in die Öffentlichkeit tragen.
Reul erstattet konsequent Anzeige – Urteile? Fehlanzeige!
Aber er erstatte konsequent Anzeige – bislang ohne dass es auch nur ein einziges Urteil gegeben habe. Ähnliche Probleme beschreibt Andreas Hollstein, CDU-Bürgermeister der Stadt Altena, der selbst vor zwei Jahren von einem Extremisten attackiert und verletzt wurde: Allein im Monat nach der Attacke sei sein Name 8000-mal im Internet aufgetaucht, 70 Strafverfahren habe es auf Kommentare hin gegeben – kein Urteil.
Insofern begrüßen beide den Neun-Punkte-Plan der Bundesregierung für einen verschärften Kampf gegen Hetze, etwa eine Meldepflicht der sozialen Netzwerke. „Ich bin froh, dass überhaupt etwas passiert“, so Reul. Jahrelang war „das Netz etwas Heiliges“, das die Politik sich nicht anzurühren traute aus Angst vor dem Zensurvorwurf. Der Minister dämpft aber auch Erwartungen angesichts der „gigantisch großen“ Datenmenge: „Zu versprechen, das hätte man alles im Blick, ist blauäugig.“
Dass man es dennoch mit aller Kraft versuchen muss, daran lässt der Innenminister indes keinen Zweifel. „Der Rechtsextremismus ist neben dem Islamismus die größte Bedrohung für die innere Sicherheit in unserem Land“, sagt er. Auch weil er schwerer greifbar wird, da zeigen sich die Politikwissenschaftler Christoph Busch vom NRW-Verfassungsschutz und Peter Neumann vom Londoner King’s College, einig. Es gebe neue Tätertypen und neue Gewaltformen im Rechtsextremismus. Auch werde der Ideologie ein zeitgemäßeres, oft fast schon hippes Kostüm übergeworfen. Die Botschaften an sich allerdings seien so alt wie gefährlich.
Es gehe um die Bedrohung der eigenen Kultur und des eigenen Lebens von außen, wird da suggeriert. „Eine Bedrohung muss man bekämpfen, sonst wird man selbst vernichtet“, erklärt Busch. Diese Grundlinie habe sich seit den 1920ern im Wesentlichen nicht verändert. Als Beispiel spielt er eine Rede von AfD-Rechtsaußen Björn Höcke vor, in der dieser den Flüchtlingsstrom als „Migrationswaffe“ bezeichnet und die Vermutung äußert, Bundeskanzlerin Angela Merkel könne „in einen großen geopolitischen Plan eingeweiht“ sein – weit weg von der Theorie einer jüdischen Weltverschwörung klingt das in der Tat nicht.
Neuer Tätertyp: Der psychisch labile Einzelkämpfer
Und die Botschaften, die jetzt oft mit Anzug oder Krawatte oder – wie bei der Identitären Bewegung – in Hipster-Klamotten statt mit Bomberjacke und Springerstiefeln daherkommen, verfangen nicht mehr nur bei jungen Menschen mit typischer Neonazi-Biografie. Für Forscher Neumann ist der Fall des 18-jährigen München-Attentäters, der 2016 in einem Einkaufszentrum neun Menschen tötete, symptomatisch: Weil der junge Mann selbst einen Migrationshintergrund hatte und psychisch krank war, glaubte man lange nicht an einen Akt von Rechtsterror – das wisse man erst seit kurzer Zeit besser. Man habe sich nach den NSU-Morden in Deutschland zu stark auf die Frage nach Netzwerken konzentriert und die Gefahr durch Einzeltäter vernachlässigt.
Solche Charaktere – labil und vornehmlich digital radikalisiert – sieht V-Schutz-Forscher Busch als große Herausforderung für die Sicherheitsbehörden. Neumann ergänzt, es fehle gänzlich an einem Frühwarnsystem, das aus der vielen Hetze im Netz herausfiltere, von wem tatsächlich Gefahr droht. „Weder ich noch meine Kollegen haben darauf eine gute Antwort“, sagt er mit Blick auf den Stand der Forschung. In jedem Fall sei eine stärkere Infiltration rechtsextremistischer Foren durch den Staat notwendig – wie es sie bei dschihadistischen Plattformen bereits gebe.
Die Zahl der rechtsextremistisch motivierten Straftaten in NRW hat laut Landeskriminalamt seit dem Höhepunkt der Flüchtlingsbewegung abgenommen (von 4700 im Jahr 2016 auf 3767 Taten 2018); sie liegt aber höher als vor 2015 (2010 etwa waren es 2890 Straftaten). Gleiches gilt für die Gewalttaten. Auffällig: Gegenläufig verläuft der Trend bei antisemitischen Straftaten (2018: 350, 2017: 324, 2016: 297) und Gewalttaten (2018: 16, 2017: 6, 2016: 2).
Hollstein: Künast-Entscheidung war ein „Fehlurteil“
„Die Kurve geht nicht nach unten“, stellt Altenas Bürgermeister Hollstein in Düsseldorf unabhängig von statistischen Zahlen klar. Und um das sichtbar zu machen, dürften Politiker Bedrohungen von Rechts nicht wie er selbst früher ignorieren. „Alles melden!“, lautet sein Appell. Er, der in seiner Stadt mehr Flüchtlinge aufnahm als vorgegeben und Ende November 2017 von einem 56-Jährigen in einem Dönerimbiss mit einem Messer attackiert wurde, könne jedoch verstehen, wenn zunehmend Kommunalpolitiker sich aus Angst zurückzögen. Zumal Innenminister Reul bei der Tagung bekräftigt: „Wir können nicht jeden schützen!“ Hollstein selbst wurde aktuell vom extremistischen „Staatsstreichorchester“ weisgesagt, er werde das neue Jahr nicht erleben. „Ich bin kein Superman – natürlich geht mich das an“, sagt der CDU-Mann.
Völlig verständnislos lasse ihn in dieser Situation die Entscheidung der Richter zurück, welch harte Beleidigungen gegen Grünen-Politikerin Renate Künast angeblich von der Meinungsfreiheit gedeckt sind. „Ein solches Fehlurteil darf nicht in der Welt bleiben“, erklärt er. „Und ich darf das sagen, ich bin Jurist“, setzt er nach. Der NRW-Innenminister steht daneben und nickt lächelnd.