Entführungen und Explosionen NRW fürchtet Zugriff der „Mocro-Mafia“: Droht neue Dimension der Gewalt?
KÖLN/AMSTERDAM · Entführungen und Explosionen in NRW tragen die Handschrift der niederländischen „Mocro-Mafia“. Die Polizei sieht eine neue Dimension der Gewalt.
. Der Kölner Stadtteil Rodenkirchen gilt als beschaulich bis gediegen – hier ist die Schauspielerin Annette Frier aufgewachsen, hier hat Ex-Showmaster Max Schautzer sein Altersdomizil. Doch was sich am vergangenen Freitagabend hier abspielt, passt in einen knallharten Krimi: Ein Spezialeinsatzkommando (SEK) befreit zwei Geiseln, die von ihren Entführern brutal gefoltert werden.
„Wir haben hier eine neue Dimension der Gewalt im Bereich der organisierten Kriminalität erleben müssen, die es so hier in Deutschland meines Wissens noch nicht gegeben hat“, bilanziert am Dienstag Kriminaldirektor Michael Esser im Kölner Polizeipräsidium. Es handele sich um einen der komplexesten Einsätze der NRW-Polizei aus den vergangenen Jahren.
Bei der Geiselbefreiung sei es zu „extremsten Bedrohungsszenarien“ gekommen, so Esser. „Wir mussten sogar annehmen, dass Maschinenpistolen eine Rolle spielten.“ Man habe damit rechnen müssen, dass die Täter die Geiseln umbringen würden. Drei Tatbeteiligte habe man entkommen lassen müssen, um das Leben der Geiseln zu schützen.
Hintergrund der Entführung sei organisierte Kriminalität im Drogenbereich, es stünden Geldforderungen im Raum. In diesem Zusammenhang seien auch mehrere Explosionen Ende Juni und Anfang Juli unter anderem in Köln und Engelskirchen zu sehen. Aus dem Informationsaustausch mit den niederländischen Polizeibehörden wisse man, dass dort schon länger Bedrohungsszenarien durch Sprengungen aufgebaut würden.
Für NRW sei das in dieser Dimension nun erstmals zu beobachten gewesen. „Das ist auch der Bereich, der uns sehr sensibel werden lässt“, gibt Esser offen zu. „Die Sprengmittel, die hier in Köln eingesetzt worden sind, haben Gott sei Dank zu keinen Verletzungen geführt.“ Das sei aber auch einem glücklichen Zufall zu verdanken gewesen, weil zum Zeitpunkt der Detonation gerade niemand im Hausflur gewesen sein. „In den Niederlanden wird auch keine Rücksicht auf Unbeteiligte genommen, da werden auch Unbeteiligte teilweise lebensgefährlich verletzt oder gar getötet.“
Äußerste Brutalität und gezielte Sprengungen gelten als Handschrift der niederländischen „Mocro-Mafia“. „Was man sieht, ist, dass den Agitatoren, die dieser Gruppierung angehören, Grenzen egal sind“, sagt Oliver Huth, NRW-Chef des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK). „Die haben keine Sorge, diesen Konflikt in Nordrhein-Westfalen weiterzuverfolgen. Es fehlt Geld, viel Geld, und solange das nicht zum Ausgleich gebracht worden ist, wird das hier weiter eskalieren.“ Diese Gruppierungen hätten ein „Elefantenhirn“, so dass auch in einigen Monaten noch Racheakte zu befürchten seien – schließlich wolle man sein Gesicht nicht verlieren. Deshalb würden auch bewusst abschreckende Videos verbreitet.
Dass es hier um Cannabis gegangen sein soll, ist für Huth kein Zufall: „Das ist ein schöner Gruß für Herrn Lauterbach nach Berlin für seinen Schwarzmarkt.“ Die Liberalisierung der Cannabis-Gesetzgebung habe das Geschäft belebt, vorhanden sei vorerst aber nur Marihuana vom illegalen Schwarzmarkt. Michael Mertens, NRW-Chef der Gewerkschaft der Polizei (GdP), bestätigt: „Die niederländische Drogenmafia ist längst hier, und NRW als Verkehrsdrehscheibe ist da ein Dreh- und Angelpunkt. Was man sich klar machen muss: Das sind wirklich Täter von äußerster Brutalität. Und deshalb muss die Polizei entsprechend stark aufgestellt sein.“
Für NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) zeigt der Einsatz in Köln, dass die Polizei entschlossen gegen Drogenbanden vorgehe. „Wir lassen nicht locker. Wir ermitteln weiter, werden weiter durchsuchen und diejenigen dingfest machen, die mit viel krimineller Energie ans große Geld wollen – zu Lasten anderer“, sagt Reul. „Das Drogengeschäft ist perfide und führt ins Verderben. Da hilft es auch nicht, wenn manche Betäubungsmittel verharmlost werden.“
„Mocro“ ist in den Niederlanden ein Slangwort für Marokkaner. Der Begriff hat sich zu einem Synonym für organisierte Drogenkriminalität im großen Stil entwickelt – ausgehend davon, dass einige Niederländer mit marokkanischen Wurzeln ihre Verbindungen in die alte Heimat für den Import von Drogen zu nutzen wussten: In Marokko wird Hanf traditionell als Heilpflanze angebaut.
Allerdings kursieren über die „Mocro-Mafia“ viele falsche Vorstellungen, sagt der renommierte niederländische Kriminologe Cyrille Fijnaut im Gespräch. So sei es völlig wirklichkeitsfremd, sich darunter eine einzige, straff geführte Organisation vorzustellen. „Es ist nicht so, dass die Drogenkriminalität in den Niederlanden in der Hand einiger großer Bosse ist. Die Polizei würde sich das wünschen, denn dann könnte man viel einfacher dagegen vorgehen, aber so ist es eben nicht. In Italien gibt es das, aber bei uns ist die Sache komplizierter.“
Der Handel sei in den Händen vieler verschiedener krimineller Gruppen, und diese seien keineswegs alle marokkanisch geprägt. „Ich spreche deshalb selbst nie von der Mocro-Mafia“, erläutert Fijnaut. „Das sagt sich so einfach, aber wenn man sich die organisierte Drogenkriminalität anschaut, dann sind da auch Ur-Holländer in der x-ten Generation dabei. Die kriminelle Welt in den Niederlanden ist genauso multikulturell wie die Oranje-Elf.“
Zahnarztstuhl
als Folterinstrument
Was die Drogenkriminalität dagegen tatsächlich kennzeichne, seien zahlreiche Konflikte zwischen den verschiedenen Gruppen - ähnlich wie es jetzt offenbar in NRW der Fall war. Wenn in der Realwirtschaft eine Lieferung ausfällt, reicht man Klage ein oder schreibt den Verlust von den Steuern ab – das ist in der Unterwelt nicht möglich, da werden die Dinge anders geregelt. Ein Sprengsatz unterm Auto, ein abgehacker Kopf vor einer Sisha-Bar, ein zum Folterinstrument umgebauter Zahnarztstuhl - all das ging schon durch die niederländischen Medien und schockierte die Öffentlichkeit.
„Diese Welt ist voller Konflikte – und seit etwa zehn Jahren werden diese in zunehmendem Maße mit Waffengewalt ausgetragen“, erläutert Fijnaut. Pro Jahr würden etwa 10 bis 20 Menschen „liquidiert“. Das prominenteste Opfer war der Fernsehjournalist Peter R. de Vries. Sogar Kronprinzessin Amalia wurde bedroht - Näheres dazu sei allerdings nie an die Öffentlichkeit gedrungen, so Fijnaut.
Der emeritierte Professor für Strafrecht und Kriminologie ist um ein differenziertes Gesamtbild bemüht – so habe sich die Gesamtzahl der Morde in den Niederlanden seit den 90er Jahren halbiert. Was allerdings enorm zugenommen habe, seien bestimmte Formen der Bedrohung innerhalb krimineller Milieus, insbesondere Explosionen von Sprengsätzen vor Wohnungen oder Geschäften.
Fijnaut hat einen Rat für die deutsche Polizei parat: Sie solle die Strafverfolgung nicht lokalen Polizeibehörden überlassen, sondern auf nationaler Ebene koordinieren, etwa über das Bundeskriminalamt. „Man braucht dafür eine Task Force, die überregional geführt wird – und das gibt es in den Niederlanden bis heute nicht.“ Auch bei den aus den Niederlanden kommenden Geldautomaten-Sprengern habe es lange gedauert, bis die deutsche Polizei die Verfolgung länderübergreifend koordiniert habe – dann allerdings gleich mit erheblichem Erfolg, wie zahlreiche Festnahmen gezeigt hätten. Das sollte jetzt nicht wieder so lange dauern, mahnt Fijnaut. „Man sollte auf jedem Fall nicht dem niederländischen Beispiel folgen – das ist kein Vorbild!“