Interview NRW-Innenminister Herbert Reul: „Rechtsstaat ist manchmal anstrengend“

Düsseldorf · NRW-Innenminister Herbert Reul spricht im Interview über die Digitalisierung, Clans, Hambach und warum Politiker auch selbst schuld an der Krise der Parteien sind.

Innenminister Herbert Reul (Mitte) beim Gespräch in der Redaktion.

Foto: Lepke, Sergej (SL)

Herr Reul, Sie haben ein aufregendes Wochenende hinter sich – Sie waren Ganoven jagen, wie Sie selbst es mitunter nennen?

Herbert Reul: (lacht) Das nehme ich zurück, die flapsigen Sprüche muss ich mir ja abgewöhnen.

Dann: Sie haben die Großrazzia gegen Clankriminalität in Marl begleitet. Wie kommt NRW da voran?

Reul: Das Problem ist über Jahrzehnte gewachsen – seit Mitte  der 80er Jahre. Und keiner hat sich darum gekümmert. Wer glaubt, man könne das jetzt simsalabim wegkriegen, der liegt daneben. Aber uns geht es darum, Nadelstiche zu setzen,  Unruhe zu stiften, den kriminellen Clans das Geschäftsmodell kaputt zu machen. Ich mache diese Einsatzbeobachtungen, weil ich den Polizisten zeigen will: Ich stehe dahinter. Aber auch, um ihnen zu erklären: Ihr müsst heute Nacht nicht sieben Mann festnehmen. Darum geht es uns ja gar nicht. Wir wollen den Clans zeigen: Die Straße gehört nicht euch. Natürlich will ich auch klarmachen, dass Politik sich kümmert. Aber ich bilde mir nicht ein, dass ich das Problem in meiner Amtszeit vollständig lösen kann.

Wie sollen diese Nadelstiche die Szene sprengen – gerade wenn die Strafen nicht folgen? Das sorgt doch sicher für Frust bei den Polizisten.

Reul: Ich erlebe bei diesen Razzien zufriedene Polizisten. Weil die Beamten merken, ihr Einsatz macht Sinn. Das konzertierte Vorgehen ganz verschiedener Behörden wirkt über den Tag hinaus. Da waren Steuerfahnder dabei, die haben Glücksspielautomaten auseinandergenommen haben und dabei zahlreiche Unregelmäßigkeiten entdeckt. Aber am wirkungsvollsten ist, wenn man die teuren Autos junger Clanmitglieder stilllegt – das tut denen am meisten weh. Für die Polizisten ist das ein Erfolgserlebnis, das hat Wirkung. Auf die Bürgerschaft sogar eine sensationelle. Im Urlaub hat mich eine Frau aus Essen angesprochen, die jetzt auf Mallorca lebt. Sie sagte: Wenn Sie so weitermachen, komme ich nach Essen zurück. Was wir jetzt noch brauchen, sind Ausstiegsmöglichkeiten für diejenigen, die raus wollen aus der Clankriminalität – denn die gibt es, da wette ich. Wie können diese Menschen anders ihr Leben gestalten, einen legalen Beruf ergreifen? Das ist noch nicht gut beantwortet.

Nun funktioniert dieser Druck auf die Szene nur mit viel Personal. Und die Polizei war gerade in der jüngsten Vergangenheit sehr belastet. Kann man noch mehr Polizistennachwuchs ausbilden?

Reul: Wenn das Parlament mitmacht, stellen wir ab 2019 2400 Kommissaranwärter pro Jahr ein – das sind 400 mehr als bei meinem Amtsantritt. Wir sind dann schon ziemlich an der Grenze. Sonst bräuchte man neue Ausbildungskapazitäten – ausgebaut haben wir sie ja schon, auch Räume angemietet. Wir sind da am Anschlag.

Moderne Technik könnte auch helfen. Aber ein Pilotprojekt, Tablets auf den Streifenwagen einzusetzen, um die Arbeit der Beamten schneller und mobiler zu machen, ist krachend gescheitert, hört man.

Reul: Die Vorgängerregierung hatte da kurz vor der Wahl mit großem Tamtam ein paar hundert Geräte gekauft. Als ich damals als Minister angefangen habe, habe ich gesagt: Zack, das machen wir noch größer und noch besser. Dann habe ich den Finanzminister Lutz Lienenkämper im Urlaub angerufen und ihm noch für den Nachtragshaushalt zusätzliches Geld aus der Rippe geleiert. Anschließend kam ich fröhlich ins Ministerium und sagte: Morgen könnt ihr bestellen. Und bekam zu hören: Auf den Tablets können die Polizisten nur Spiele machen, aber die kommen nicht ins Polizeinetz. Die Technik war gar nicht da, das war nie geklärt worden. Außerdem gab es große Sicherheitsbedenken. Jetzt haben wir ein Jahr lang daran gearbeitet und diese Hausaufgaben nachgeholt. Aber ab 2019 soll es losgehen, dann wollen wir Smartphones für die Streifenbeamten anschaffen.

Und diesmal können sie damit auch arbeiten?

Reul: Ja Stück für Stück, nicht alles auf einmal. Aber es wird eigene Apps und Messengerdienste dafür geben. Das Smartphone hat den Vorteil, dass es weniger Platz kostet als ein Tablet.

Was wird dann besser?

Reul: Informationsaustausch, Datenabfrage – ich will eine mobile Kommunikation in der Polizei. Wir investieren in eine zukunftsfähige Infrastruktur, die bei Bedarf auch um neue Funktionalitäten erweitert werden kann.

Werden die Geräte jetzt flächendeckend eingeführt oder wieder erst mal einige hundert Stück?

Reul: Nein, ich bin dagegen, dass man kleckert. Man muss eine Systementscheidung treffen. Ich weiß nur noch nicht, ob es ein Smartphone pro Polizist oder pro Fahrzeug gibt – da müssen wir sehen, was sinnvoll ist. Aber in ganz NRW. Ich habe wirklich viel Geld bekommen – fragen Sie mal den Finanzminister nach dem Namen Reul!

Dennoch: Gerade aktuell arbeiten viele Polizisten in NRW am Limit – und im Fall Hambach gab es auch kein Erfolgserlebnis wie bei den Clan-Kontrollen, sondern viel Frust. Wie wollen sie die Truppe langfristig zusammenhalten?

Reul: Das Erfolgsrezept ist Verlässlichkeit. Zeigen, dass ich hinter ihnen stehe. Ich war jetzt schon bei mehreren Hundertschaften, die in Hambach im Einsatz waren, habe mich bei den Beamten bedankt – und sie gefragt, wie wir weitermachen sollen. Ich nehme sie mit.

Reicht das angesichts sehr konkreter Probleme, die es im Hambach-Einsatz gab?

Reul: Ein Hauptproblem war die Verpflegung, dann die fehlende Planbarkeit von Einsätzen: Die Kräfte waren auf dem Heimweg und bekamen dann den Anruf, es geht am nächsten Morgen um acht wieder los – da konnten sie gleich ins Hotel fahren, hatten keine Klamotten dabei. Das hat sich im Laufe der Zeit gerichtet. Jetzt ist das Problem vor allem: Die Polizisten wollen wissen, was sie dürfen und was nicht. Nach dem Gerichtsbeschluss haben sie zugeguckt, wie von den Tausenden Demonstranten wieder Barrikaden in den Wald geschleppt wurden. Sie hatten das Gefühl: Es war alles umsonst. Und manches ist auch schwer zu verstehen – nicht nur für die Beamten.

War denn alles umsonst? Haben Sie nicht auch das Gefühl, einen Kampf zu kämpfen, der politisch und gesellschaftlich nicht mehr zu gewinnen ist?

Reul: Ich hätte nie geglaubt, wie sich dieses Thema entwickelt. Da hat ja die breite Bürgerschaft gegen „die da oben“ protestiert. Gegen mich. Aber  bei uns geht es nicht um die Frage: Kohle – ja oder nein. Sondern um den Rechtsstaat. Meine Auffassung ist klar: Rechtsbruch ist Rechtsbruch. Es ist irre anstrengend, weil wir so viele Baustellen haben. Aber wir können nicht einzelne Straftaten bagatellisieren, der deutsche Staat darf keine Form der Gewalt tolerieren. Es gibt nicht gute und schlechte Gewalt.

Das heißt: Wenn wieder Baumhäuser gebaut werden, greift die Polizei wieder ein?

Reul: Das gucken wir uns jetzt in aller Ruhe an. Ich möchte, dass im Wald Ruhe einkehrt. Wenn zwei Jahre nichts passiert, geht kein Polizist mehr rein. Aber wenn ein Teil der Braunkohlegegner erneut die Regeln verletzt, müssen wir das wieder in Ordnung bringen.

Kann RWE nicht auf seinem Grund und Boden mal für diese Ordnung sorgen?

Reul: Das tut das Unternehmen ja. Aber der Wald ist ein Wald. Und der muss für jedermann zugänglich sein.

Die Gewerkschaft der Polizei sagt, man hätte auf den Gerichtsbeschluss warten müssen. Das sehen Sie offenkundig immer noch nicht so.

Reul: Bei uns ging es ja nicht um die Rodung. Bei der Räumung konnte ich nicht anders handeln, als klar war, wie es in diesem Wald aussieht und was das juristisch heißt. Da war Ende Gelände – ich musste die kommunalen Bauämter bei der Räumung unterstützen. Der Stopp nach dem tödlichen Unfall war schon haarig. Wäre da noch etwas passiert, wäre ich dafür verantwortlich gemacht worden.

Es gibt Stimmen, die sagen, RWE sollte doch für den Mammuteinsatz zahlen. Was sagen Sie?

Reul: Ich sage: Die Fußballvereine zahlen auch nicht, die Schützenvereine auch nicht, der Sankt-Martins-Zug auch nicht. Man könnte das machen – aber ich wäre sehr gespannt, wie Gerichte darüber urteilten. Geld darf nicht darüber bestimmen, wann die Polizei sich einmischt. Sicherheit ist kein betriebswirtschaftlich zu kalkulierender Kostenfaktor.

Aber was ist mit dem Geld für die Überstunden der eingesetzten Polizisten? Das war bisher unklar.

Reul: Alle Polizisten und Regierungsbeschäftigte, die im Hintergrund gearbeitet haben, können sich die Mehrarbeit auszahlen lassen. Und zwar sofort. Sie müssen nicht bis zum Ende des Jahres warten – denn abfeiern können sie die ja ohnehin nicht. Wann denn? Außerdem bekommen alle zwei Tage Sonderurlaub – als Anerkennung für den außergewöhnlichen Einsatz, den sie da geleistet haben.

Ein anderer aktueller Einsatz hätte in eine Totalkatastrophe münden können: die Geiselnahme in Köln. Sind Sie da mit Ihrer Polizei zufrieden?

Reul: Soweit ich das heute beurteilen kann: Ja, das war hochprofessionell, eine super Leistung. Cool zu bleiben, sauber zu analysieren und dann schnell zu reagieren. Es macht mich unruhig, dass wir immer noch nicht wissen, ob der Tatverdächtige nun Krimineller, Psychopath oder Terrorist war. Das muss die Bundesanwaltschaft jetzt klären.  

Er hatte schon Straftaten begangen – haben Sie Sorge, dass das Unverständnis in der Bevölkerung weiter steigt, weil nicht konsequent genug abgeschoben wird?

Reul: Das reichte nicht, das war Kleinkriminalität – und das Asylrecht ist stark. Da muss der Maßstab schon gleich sein, er darf nicht willkürlich sein. Rechtsstaat ist manchmal anstrengend.

Der LKA-Chef hat im Interview mit dieser Zeitung in der vergangenen Woche gesagt, die Frage sei ohnehin nie gewesen, ob in NRW ein Anschlag passiert, sondern wann. Was tun Sie, um der Terrorgefahr zu begegnen?

Reul: Wir haben zuerst einmal viel Polizei in die Fläche gegeben – denn Menschen wollen Polizei auch sehen. Aber genauso brauche ich die Spezialisten im LKA, um „vor die Lage zu kommen“, wie es im Polizeijargon heißt. Terror löst man nur, wenn man im Vorhinein davon weiß – nicht allein durch Poller. Da bauen wir ja jetzt aus, die ganze Struktur im Bereich Terrorismusbekämpfung wird neu aufgestellt. Ein Instrument ist natürlich das neue Polizeigesetz, etwa für die Überwachung.

Sie haben einen Entwurf vorgelegt, da gab es einen großen Aufschrei. Dann haben Sie nachgebessert – und die SPD sagt jetzt, es ist doch ein schlechtes Gesetz und wir stimmen nicht zu. Verstehen Sie das noch?

Reul: Nö.  Ich habe mich richtig darum bemüht, dieses Gesetz verfassungsfest zu machen. Es gab in der Anhörung ernsthafte Beiträge von Juristen, dass der Entwurf so vor Gericht nicht Bestand hat. Aber damit wäre ja niemandem gedient gewesen. Also haben wir repariert, korrigiert und an einigen Stellen sogar richtig verbessert. Aber warten wir mal ab, ob der SPD-Landesvorsitzende wirklich bei seiner Blockadehaltung bleibt. Vielleicht setzen sich die Vernünftigen in der Partei ja doch noch durch.

Heute bekommen Politiker, die sich korrigieren oft den Vorwurf, sie verstünden ihr Handwerk ja wohl nicht.

Reul: Ich bin so alt, mir ist wurscht, ob ich mich korrigiere. Hauptsache, die Sache ist am Ende gut.

Ist das der neue Stil dieser Landesregierung: auch mal zuhören und reden?

Reul: Die Leute haben genug von Politikern, die alles wissen. Superman gibt es nicht, auch nicht in der Politik. Wir haben über Jahrzehnte den Eindruck erweckt, wir lösen alle Probleme, bevor sie auftauchen. Wir sind also ein Stück selbst schuld an der Parteienkrise. Vertrauen baut man langsam auf, Stück für Stück. Man sollte nur das versprechen, was man auch halten kann. Das ist ganz banal.

Haben Sie das in Berlin mal angebracht?

Reul: Wissen Sie, zum richtigen Merkel-Anhänger bin ich erst in der Flüchtlingskrise geworden. Weil die Kanzlerin genau das gemacht hat: Stück-für-Stück-Politik. Sie hat im CDU-Präsidium alle Punkte benannt, immer – es haben bloß nicht alle zugehört. Sie hat eines nach dem anderen abgearbeitet. Sprüche will doch keiner mehr hören.  Das versuche ich im Kleinen. Ich würde nie versprechen: Wir lösen Clankriminalität. Mein Versprechen ist: Wir fangen an, Schritt für Schritt.

Perlt es denn an Ihnen ab, wenn Sie kritisiert werden? Die Jusos haben sogar jüngst Ihren Rücktritt gefordert, weil Sie im Fall Hambach bewusst „Fake News“ verbreitet haben sollen.

Reul: Rund um Hambach hat mich schon vieles ergriffen – aber nicht so ein Pillepalle. Ich bekomme Hass-Mails und werde persönlich attackiert. Das prallt nicht ab und strengt mich schon sehr an. Noch viel mehr  aber ein Fall wie Kleve, wo der Mann, der dort nie hätte sein dürfen, in der JVA gestorben ist: Wenn ich den Fall auf den Tisch bekomme und sehe, was da alles schief gelaufen ist bei der Polizei, und mit mir ringe, was ich jetzt tue. Und dann sagen muss: Falsch ist falsch und konsequent ist konsequent. Unsere „Null-Toleranz-Linie“ gilt eben auch für die Polizisten.

Ist es für Sie ein Spagat, Fehler der Polizei in diesem Fall klar zu benennen, sich dafür zu entschuldigen, und gleichzeitig generelle Rückendeckung zu geben?

Reul: Das war meine Hauptsorge, dass die Tausenden anderen Polizisten sagen: Der Reul fällt uns in den Rücken, wenn es mal schwer wird. Sie müssen ja zum Teil in Sekunden entscheiden – wie im Fall Köln jetzt. Und ich muss mich fragen: Wenn es da schiefgegangen wäre, hätte ich den Mut gehabt zu sagen: Es war trotzdem richtig? Ich hoffe es. Aber im Fall Kleve haben Polizisten ganz klare Schritte einfach nicht abgearbeitet. Das muss man jetzt aufarbeiten und sehen, wo die Gründe lagen.

Sie haben eingangs schon gesagt: Sie müssen darauf achten, was Sie sagen. Schaffen Sie das inzwischen meistens?

Reul: Bisher klappt es und schadet nicht. Ich glaube, die Leute schätzen, wenn man ehrlich miteinander umgeht. Aber das Risiko ist da …

Im Fall Sami A. und Ihrer Kritik an der Gerichtsentscheidung ist es Ihnen doch schon vor die Füße gefallen, dass Sie manchmal schnell etwas sagen. Hat es Sie verletzt, dass man Ihnen Nazi-Sprachgebrauch unterstellen wollte?

Reul: Klar verletzt das. Aber das muss man in der Politik wohl ertragen – vor 20, 30 Jahren wäre ich explodiert. Heute fällt es mir immer noch schwer, aber ich kann es besser. Ich habe ein wichtiges Ziel: Ich habe fünf Jahre und will beweisen, dass der Staat noch etwas hinkriegt. Deshalb habe ich damals Ja zu dem Ministeramt gesagt – Europaabgeordneter in Brüssel zu bleiben, wäre sicher einfacher gewesen.

Derzeit? Das glauben wir nicht. Wie verfolgen Sie als Ex-Europapolitiker denn die Brexit-Verhandlungen?

Reul: Mit Schrecken, Entsetzen, Verzweiflung.

Glauben Sie, dass uns wirklich ein No-Deal-Brexit – also ein harter Ausstieg ohne Abkommen – drohen könnte?

Reul: Das weiß man bei den Briten leider nie. Rational kann man nur sagen: Das kann eigentlich nicht. Aber rational war die Nummer ja von Anfang an nicht. Es kann alles passieren.

Das müsste doch das dominierende Thema im Europawahlkampf sein.

Reul: Ich habe nur noch nie gelebt, dass Europathemen den Europawahlkampf entschieden haben. Ich weiß nicht, welche Sau dann durchs deutsche Dorf getrieben wird. Ich würde es auf Sicherheit drehen. Ich glaube, da fänden die Menschen „mehr Europa“ wunderbar. Und da könnten wir auch als Bundesland unseren Beitrag leisten.  Die paar Leute, die wir zum Frontex-Auslandseinsatz schicken – mickrig.