Neuss: „Unser Leid ein Gerücht von gestern“
Gedenkstunde: Am Standort der Synagoge Erinnerung an die Pogromnacht vom 9.November 1938
Neuss. An den Tag, an dem alle Schranken fielen, wie es die erste stellvertretende Bürgermeisterin Angelika Quiring-Perl ausdrückte, erinnerte die Stadt gestern wieder mit einer Gedenkstunde. Dort, wo in der Nacht vom 9. auf den 10.November 1938 die Synagoge brannte, wo heute eine Skulptur von Ulrich Rückriem an die Opfer erinnert, gestalteten Schüler der Realschule Holzheim eindrucksvoll die Veranstaltung.
"Unser Leid ein Gerücht von gestern." Der Zeile aus dem Gedicht von Hans Sahl wurde mit der Veranstaltung eindrucksvoll widersprochen. Die hier versammelten Menschen wandten sich gegen ein Vergessen. Es gehe nicht um Schuldzuweisung, es gehe um Verantwortung, bekannte Angelika Quiring-Perl. Nur wer wisse, wozu Menschen fähig seien, nur wer die Vergangenheit kenne, könne Lehren für die Zukunft ziehen. Schweigenden Nachbarn, wie es sie auch in den Pogromnacht gab, dürfe keine Chance gelassen werden
Schweigende Nachbarn gab es auch in Neuss. Die zum Beispiel bei Julius Makan in seinem Textilgeschäft an der Oberstraße einkauften: Er wurde in Auschwitz ermordet. Die Edith Nussbaum kannten, die an der Michaelstraße wohnte. Oder die neben den Brüdern Paul und Alfred Cohnen lebten: Der eine wanderte aus, der andere überlebte mit seiner Frau Ghetto und Konzentrationslager und brach nach der Befreiung aus dem KZ ebenfalls in die Dominikanische Republik auf. Die Schüler zeigten Fotos dieser Neusser, die wie so viele andere damals vertrieben, gequält, umgebracht wurden. Etwa 300 Juden lebten 1933 in Neuss, 179 wurden ermordet, die anderen flüchteten. "Hat mich denn ein Stein geboren", zitierte schließlich eine Schülerin aus dem Gedicht eines 13-jährigen jüdischen Jungen.
Die Schüler aus Holzheim fassten Anlass und Bedeutung der kleinen Gedenkstunde treffend zusammen: "Wir, die heute hier sind, tragen diese Vergangenheit als Erbe in uns. Und deshalb tragen wir Verantwortung."
Zuvor hatte der Verwaltungsdirektor der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf, Michael Szentei-Heise, angesichts der schon so lange wiederkehrenden Gedenkfeiern zum 9.November vor der gefahr des Automatismus, der Routine gewarnt; davor, dass Veranstaltungen dieser Art zur lästigen Pflichtübung werden könnten. Gerade in Neuss aber sehe er diese Entwicklung, wie sie "in den Kommunen landauf, landab" zu beobachten sei, nicht. Angesichts des baldigen Einzugs in das neue Gemeindezentrum, das mit Hilfe der Stadt erworben wurde, erinnerte er an einen bereits Jahre alten Ausspruch von Bürgermeister Herbert Napp: Dies sei "wirklich eine Stadtreparatur der besonderen Art".