Karneval in Neuss Die erste Prologia liest den Mächtigen die Leviten

Neuss · Der Nüsser Ovend hat die Corona-Pandemie überlebt: Am Samstagabend feierten rund 300 Gäste im ausverkauften Gare du Neuss ausgelassen Karneval. Und dennoch war nicht alles wie früher.

Gelungene Überraschung: Zum ersten Mal tritt beim Nüsser Ovend eine Prologia auf – Annette Gratz.

Foto: Andreas Woitschützke

Die Neusser Heimatfreunde hatten tatsächlich für eine kleine Sensation gesorgt: Erstmals war es kein Prologius, sondern eine Prologia, die den Mächtigen die Leviten las: Annette Gratz wird in die Geschichte der Heimatfreunde eingehen. Zu den Sitzungen der Heimatfreunde kommen alle, die Rang und Namen haben in Neuss. Das war auch diesmal so. Die Bundestagsabgeordneten Hermann Gröhe und Daniel Rinkert waren da, ebenso Oberpfarrer Andreas Süß, der Präsident der Neusser Schützen, Martin Flecken, der Landtagsabgeordnete Jörg Geerlings, Bürgermeister Reiner Breuer und sein Vorgänger Herbert Napp. Sie erlebten ein sehr abwechslungsreiches Programm mit Lokalkolorit.

Für Letzteres sorgte Prologia Annette Gratz. Sie lästerte, dass Frauen bei der Stadtverwaltung, der Kirche und bei den Schützen keine Rolle spielten. Den Bürgerschützenverein forderte sie auf, sich „auf den synodalen Weg zu machen“. Bürgermeister Reiner Breuer dürfte mit Kritik von der Bühne gerechnet haben, aber nicht damit, dass sie von einer Frau kommen würde – das war bis zur letzten Sekunde geheim gehalten worden. Annette Gratz, die Frau im schlichten schwarzen Kleid mit der ebenso schlichten Kurzhaarfrisur ging auf die stark gestiegenen Gebühren für das Anwohnerparken in der Neusser Innenstadt ein.

Ihr Vorschlag: „Ganz Hoisten könnte eine Park-&-Ride-Anlage werden für die Innenstadt. Die kostenlose Straßenbahn im Zentrum sei erstmal entgleist. Die Forderung aus den Reihen der Politik, die Gewerbesteuer zu halbieren, ist für sie so, als würden beim Schützenfest nur halbvolle Gläser ausgeschenkt werden. Die Prologia betonte die Bedeutung von sozialer Kompetenz, Mitmenschlichkeit und Zuwendung. Der Präsident des Elferrates, Jean Heidbüchel, freute sich, dass endlich wieder gefeiert werden konnte. Das Motto diesmal: „Ob Pettikoot, ob Elvistoll, bem Ovend jonnt se All op roll.“

Das Bühnenprogramm war abwechslungsreich, sodass keine Minute Langeweile aufkommen sollte. Büttenredner Christoph Jensen-Dymek klagte auf sehr humorvolle Weise sein Leid als Lehrer. Er wünschte sich mehr Kompetenz im Bereich Schule und fragte: „Oder läuft es wieder so wie mit Frau Zangs damals?“ Auf amüsante Weise schilderte er das niedrige Bildungsniveau: „Dennis hat gefragt, ob er mit seiner Diesel-Jeans in die Innenstadt gehen dürfe.“ Über die FDP lästerte er nicht ab: „Auf Toten tritt man nicht herum.“ Für eine übervolle Bühne sorgte das Prinzenpaar Mark I. und Novesia Nicole I. samt Gefolge. Hinter dem Namen „Novesia Goldnuss“ verbargen sich Georg Kaster und Jan Philipp Büchler. Sie reimten rückblickend folgendes: Wir haben so viel verpasst und die Einsamkeit gehasst.“

Für die Tanzeinlagen, die zu jeder Karnevalssitzung gehören, sorgten die Girls des TSV Norf. Die Kölner Band „Scharmöör“ war zum ersten Mal in Neuss: „Geile Location, Wahnsinn, irgendwie romantisch“, schwärmten sie und legten einen tollen Auftritt hin. Sie hatten nicht die bekanntesten Karnevalslieder im Repertoire, kamen beim Publikum aber sehr gut an – die Zugabe-Rufe sollten daher nicht unerhört bleiben.

Ein Heimspiel hatte Tilly Meester. Die Neusserin eroberte die Herzen der Zuschauer als Schuhstall-Liesel im Sturm. Aus Sicht einer Frau erklärte sie, wer schuld ist an einer Ehekrise: „Das liegt immer an Beiden – dem Mann und seiner Mutter.“ Auf sehr amüsante Weise beschrieb sie das Älterwerden und seine Folgen. Markus Lenz hatte wieder das Mottolied geschrieben. Er sang es und forderte zu einer Polonaise auf. Elferrat und Prinzenpaar samt Gefolge schlängelten sich durch den Saal. „Egal, ob Mann, ob Frau, wir sagen Nüss helau“, dichtete Lenz.

Stewardess Marina machte als Büttenrednerin auf besondere Talente von Frauen aufmerksam: „Sie können Bargeld in Kassenzettel verwandeln“, erzählte sie. Das allerdings ist nicht nur ein Talent von Frauen.