Während die benachbarte Großstadt Wuppertal bereits seit fast zwei Jahren in Schutt und Asche lag, war die nordöstlich angrenzende westfälische Landgemeinde Gennebreck mit dem Kirchdorf Herzkamp bis Anfang 1945 von Schäden durch Luftangriffe weitgehend verschont geblieben. Lediglich für den 21. Mai 1944 enthielten die Luftschutz-Tagesmeldungen den Hinweis auf einen Schaden: „Gemeinde Herzkamp, 1 Minenbombe, 5 Häuser mittelschwer und 28 Häuser leicht beschädigt, 1,25 ha Flurschaden, Telefonleitung zerstört.“
Wegen der vergleichsweise sicheren Lage des Gemeindegebietes hatte sich 1944 der Düsseldorfer Gauleiter Karl Florian dort im „Haus in der Sonne“ einquartiert. Er war Zeitzeugen zufolge „einer der übelsten Durchhaltefanatiker Hitlers bis zum bitteren Ende“.
Hektisches Bemühen,
das Schicksal zu wenden
Die Geschichte der Befreiung Gennebrecks ist verbunden mit dem „Ruhrkessel“, der mit der Eroberung der Rheinbrücke von Remagen durch amerikanische Truppen am 7. März 1945 Gestalt annahm. Dieser Übergang schuf das südliche Einfallstor über den Rhein Richtung Osten und bildete neben dem Rheinübergang bei Wesel den Startpunkt für die Zangenbewegung der alliierten Truppen zwischen Sieg und Lippe. Am 1. April trafen sich die 1. und die 9. US-Armee in Lippstadt. Der 6000 km² große Ruhrkessel war damit geschlossen und die Vernichtung der eingeschlossenen deutschen Heeresgruppe B nur noch eine Frage von Tagen. Je mehr es dem Ende zuging, desto hektischer wurde das Bemühen, das Schicksal zu wenden. Die Lage für die deutschen Truppen war aussichtslos und chaotisch.
Zuvor hatten schwere Luftangriffe unter anderem die benachbarten Großstädte Hagen und Wuppertal erneut heimgesucht. „Mopping up“, aufwischen, nannten die Alliierten dieses „Plattwalzen“ der Städte durch neuartige Sprengbomben von ungeheurer Explosivkraft und die Vervielfachung des Abwurfs von Brandbomben. Diese Bombardierungen hatten das Ziel, die Kämpfe zu verkürzen und den Krieg rasch zu beenden. Über Deutschland waren nun ständig 3500 Flugzeuge eingesetzt.
Der Auftrag an die Soldaten der Heeresgruppe B lautete nach wie vor: Verteidigung bis zum letzten Mann! Diesen Befehl befolgten viele bis zur Selbstzerstörung und nahmen den Tod der Zivilbevölkerung in Kauf. Der sogenannte Nero-Befehl, der Führerbefehl Hitlers vom 19. März, ordnete an: „Alle militärischen, Verkehrs-, Nachrichten-, Industrie- und Versorgungsanlagen sowie Sachwerte innerhalb des Reichsgebietes, die sich der Feind für die Fortsetzung seines Kampfes irgendwie sofort oder in absehbarer Zeit nutzbar machen kann, sind zu zerstören.“
Militärische Sprengkommandos versuchten in diesen Tagen mehr oder weniger erfolgreich, Brücken, Tunnel und Sperrmauern der Talsperren zu sprengen. Die Sprengung der Müngstener Brücke zum Beispiel konnte nur aufgrund eines gefälschten Befehls des Generalfeldmarschalls Model verhindert werden.
Während die Amerikaner am 11. April von den Ruhrhöhen bei Bochum den Bereich südlich der Ruhr mit massivem Artillerie-Beschuss überzogen, verfügte ein Funkspruch des Landratsamtes in Schwelm die Auflösung der Lager und die Aktenvernichtung in den Städten und Ämtern des Ennepe-Ruhr-Kreises.
Das Lager für Zwangsarbeiter am Bahnhof Schee war bereits vorher geräumt worden. Die Männer aus den Niederlanden, Belgien und Frankreich, die hier unter erbärmlichen Umständen leben mussten, hatten in einer vor Luftangriffen geschützten Röhre des Eisenbahntunnels Schee für die Vohwinkeler Firma Homann Rumpfspitzen für das Messerschmitt-Jagdflugzeug ME 262 montiert. Auch Gefangene aus der Sowjetunion, denen es noch viel schlechter erging, hatten hier schuften müssen. Sie waren allabendlich mit dem Zug in ihr Lager nach Wuppertal gefahren worden.
Im März 1945 verlagerte Homann den Betrieb, der den Decknamen „U Kauz“ trug, in das vermeintlich sichere Thüringen. In Gennebreck waren weitere Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in den Garagen des ehemaligen Reichsarbeitsdienstlagers am Ochsenkamp eingepfercht.
Noch viel mehr als die deutsche Zivilbevölkerung werden sie diese letzten Tage vor der Befreiung in hoffnungsvoller Erwartung, aber auch in Angst und Schrecken verbracht haben. Ihre Lage war besonders prekär: Die Begegnung der ausgehungerten und geschundenen Menschen kurz vor der sicheren Befreiung mit marodierenden und demoralisierten deutschen Kommandos war lebensgefährlich. In diesem Zusammenhang ist das Schicksal des Sowjetbürgers zu sehen, der am 12. April 1945 sein Leben verlor und auf dem Herzkamper Friedhof bestattet wurde.
In diesen Tagen wurde auch die Gemeinde Gennebreck zur Front. Die chaotischen Rückzugsgefechte der Heeresgruppe B und Angriffe der näher rückenden alliierten Truppen gefährdeten jetzt alle ihre Bewohner, die seit Monaten durch vereinzelte Bombenangriffe und vor allem durch Beschuss aus Tieffliegern zermürbt worden waren. Ein ehemaliger Herzkamper Volksschüler erinnerte sich später an die letzten Kriegswochen: „Wir Kinder konnten schon einige Wochen nicht zur Schule gehen, weil es wegen der Tiefflieger zu gefährlich war. Die Front kam immer näher. Man hörte schon aus der Ferne das Schießen der Geschütze. ...“
Im Hotel Beermannshaus nahe dem Amtssitz Haßlinghausen fand am 13. April die letzte Kreisleitertagung der NSDAP im Gau Westfalen-Süd statt. Dort befand sich der Kreisbefehlsstand für den Ennepe-Ruhr-Kreis, das Freikorps Sauerland und den Volkssturm. Gauleiter und „Reichsverteidigungskommissar“ Albert Hoffmann löste, wie in der Literatur angegeben, den Gau Westfalen-Süd auf und setzte sich ab. Zeitnahe Quellen lassen jedoch den Eindruck entstehen, dass sich diese Organisationen in der chaotischen Lage selbst auflösten und Hoffmann im Nachhinein eine „offizielle“ Auflösung noch als einen Akt des Widerstandes darstellte. An diesem Tag wurde in den Zeitungen ein Erlass Heinrich Himmlers abgedruckt: „Jedes Dorf und jede Stadt werden mit allen Mitteln verteidigt und gehalten. Jeder für die Verteidigung seines Ortes verantwortliche deutsche Mann, der gegen diese selbstverständliche nationale Pflicht verstößt, verliert Ehre und Leben.“
Noch waren unter anderem in Haßlinghausen und Herzkamp deutsche Fallschirmjäger-Einheiten in Stellung. Soldaten, die in dieser ausweglosen Situation versuchten, sich von ihrer Einheit abzusetzen, wurden gnadenlos verfolgt und hingerichtet. In einem Steinbruch im Hilgenpütt erschossen Wehrmachtsangehörige zwei ihrer Kameraden, die zuvor von einem mobilen Standgericht am ehemaligen Schacht Hövel nahe dem Bahnhof Schee festgesetzt und zum Tode verurteilt worden waren. Ihre Leichen wurden nach Kriegsende geborgen und, weil die Erkennungsmarken entfernt worden waren, als „unbekannt“ auf dem Herzkamper Friedhof beigesetzt.
Am Tag, als Gauleiter Albert Hoffmann sich davonstahl – am 13. April – besetzten die Amerikaner Radevormwald und Hückeswagen. Aus Richtung Radevormwald – Halver rückten sie nun nach Schwelm vor. Einen Tag später standen Haßlinghausen und Herzkamp unter massivem Beschuss. Luftminen und Artilleriebeschuss beschädigten etwa die Herzkamper Kirche. Aus Richtung Haßlinghausen und Gevelsberg erfolgte immer noch starke Gegenwehr mit vielen Toten und Verwundeten.
Am Abend des 14. April war Schwelm komplett eingenommen und in der Nacht zum 15. rückten die Amerikaner mit Verstärkung nach Haßlinghausen und in Richtung Wuppertal vor. Dazwischen lag Gennebreck. Für Haßlinghausen und Linderhausen sind für den 15. und 16. April die Todesfälle von sieben Zivilisten und elf deutschen Soldaten beziehungsweise Volkssturmmännern dokumentiert. In Gennebreck fielen noch am 16. April drei deutsche Soldaten „durch Feindeinwirkung“.