Gedenktag „Schreibend überleben“: Sprockhövel gedenkt Holocaustopfern
Sprockhövel · Im Mittelpunkt der Veranstaltung stand der jiddischsprachige Dichter Abraham Sutzkever.
„Schreibend überleben“ lautete der Titel der Sprockhöveler Veranstaltung zum Holocaustgedenktag. Im Mittelpunkt stand Abraham Sutzkever, einer der bedeutendsten jiddischsprachigen Dichter des 20. Jahrhunderts. In einer eindrucksvollen Text-Musik-Collage stellten vier Künstler in der Herzkamper Kirche sein Leben und Werk vor – die dritte Holocaust-Gedenkveranstaltung von Kultur.Kirche.
Herzkamp wurde – wie schon „Die wundersame Rettung der kleinen Tamar“ und „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ – zu einem beeindruckenden und würdigen Ort des Gedenkens. Sprockhövels Bürgermeisterin Sabine Noll sprach Begrüßungsworte zum „Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust“ und verlas die „Sprockhöveler Erklärung für Demokratie“. Seit 1996 gilt der 27. Januar deutschlandweit als Gedenktag, denn an diesem Tag befreiten 1945 Soldaten der Roten Armee die Menschen im Konzentrationslager Auschwitz, in dem mehr als eine Million Menschen ermordet worden waren.
Erlebtes wurde in Gedichten festgehalten
Der Dichter Abraham Sutzkever, geboren 1913 in der Nähe des litauischen Vilnius (Wilna), das damals zum russischen Zarenreich gehörte, überlebt den Holocaust. Seine Kindheitserinnerungen, persönliches Leben und Erleben hält er in eindrucksvollen Gedichten fest, die er in Jiddisch schreibt, der Sprache der osteuropäischen Juden. Die Sängerin Shura Lipovsky war kurzfristig aus Amsterdam angereist, um für eine erkrankte Kollegin einzuspringen. Sie sprach und sang Sutzkevers Gedichte im jiddischen Original und vermittelte auf wunderbare Weise, wie poetisch und farbenreich diese Sprache klingt. Voll tiefer Gefühle ließ sie Sutzkevers Erinnerungen an die Kindheit in Sibirien erklingen. Ein Sonnenuntergang, Schnee und Eis – der Dichter lässt alles leuchten und klingen, fasst das nicht leichte Leben in Lyrik, verwandelt Elend in einen glitzernden Schatz. Die Familie war 1915 nach Sibirien geflüchtet, weil die litauischen Juden verdächtigt wurden, mit den deutschen Truppen zusammenzuarbeiten. Die sibirische Landschaft prägte den Jungen und schuf spürbar die Basis seiner lyrischen Inspiration. Er entdeckt die Welt mit staunenden Augen, stellt philosophische Fragen.
Nach dem Tod des Vaters geht die Mutter 1920 mit den Kindern zurück nach Wilna, das als kulturelles Zentrum des Judentums gilt. Im „Jerusalem des Ostens“ lebten zu Beginn des Zweiten Weltkriegs etwa 80 000 Juden. Jiddisch ist eine anerkannte Kultursprache, Abraham besucht das jiddische Gymnasium und schreibt. Der Wuppertaler Schauspieler Olaf Reitz las Sutzkevers Gedichte und kurze Passagen aus dessen Biografie ausdruckstark und pointiert auf Deutsch. Auch er macht deutlich, dass es eine starke poetische Sprache mit einprägsamen Bildern ist. Wenn von „A zilberne nets fun trern“ – „Ein Silbernetz von Tränen“ die Rede ist, kann man das Jiddische gut verstehen. Poetische Texte und Musik gehen ineinander über. Annette Siebert (Violine) und Thomas Siebert (Klarinette und Bassetthorn) übersetzen die jeweilige Stimmung großartig in Musik. Im engen Dialog verbinden sie die Texte mit stimmungsvoller osteuropäischer Klezmermusik. In traurigsten Melodien ist immer auch ein Funke Hoffnung zu spüren.
Mit feinem A-capella-Gesang füllte Shura Lipovsky mit dem Lied „Mayn veyse trern“ - „Meine weißen Tränen“ den Kirchenraum. Deutsche Truppen besetzen ab 1941 Litauen, zwei Drittel der jüdischen Bevölkerung werden ermordet. Die restlichen Juden leben in Ghettos. Dort wird Sutzkever zum lyrischen Zeugen, hält die schrecklichen Ereignisse in Gedichten fest. Beklemmende Bilder in konsequenter Ich-Perspektive machen nachdenklich. Sutzkever rettet wertvolle Bücher und Manuskripte vor der Vernichtung, flieht 1943 nach Moskau. Nach Kriegsende wird er ein wichtiger Zeuge bei den Nürnberger Prozessen, 1947 emigriert er nach Israel, wo er 2010 stirbt. Shura Lipovski singt ein hoffnungsvolles Lied, in dem es heißt: „Was wird bleiben? Gott wird bleiben!“. Es endet fast euphorisch in einem fröhlichen Tanz.
Die Veranstaltung war eine Kooperation von Kultur.Kirche Herzkamp mit der Stadt Sprockhövel und dem Verein Mizwa – Zeit zu handeln. Konzipiert und geschrieben wurde der Abend von der Journalistin Brigitte Jünger. Gefördert wurde die Veranstaltung von der Sparkasse Schwelm-Sprockhövel.