Demenz: „Sie sind liebebedürftig wie kleine Kinder“

18 meist stark demente alte Menschen leben auf einer Station. Die WZ war einen Tag dabei.

Wuppertal. Herr Bayer (Alle Namen von der Redaktion geändert) hat einen schlechten Tag. Er weint und ist davon überzeugt, seine Mutter sei gestorben. Herr Sarial verfällt mit fortschreitender Demenz zunehmend zurück in seine türkische Muttersprache, die deutsche hat er vergessen. Herr Kramer hat mittags wenig gegessen - das muss die Spätschicht im Blick halten - und Frau Fritsch will unbedingt in die Schule, obwohl sie bettlägrig ist und mit Brei gefüttert wird.

Mit ihrem leeren Tunnelblick, der rechts und links nichts und niemanden wahrnimmt, streift Frau Lenz über die Gänge. Damit sie und die anderen nicht verloren gehen, lässt sich der Wohnbereich nur mit einem Chip öffnen. Ein anderer Bewohner muss mal wieder davon abgehalten werden, in den Aufzug zu urinieren. Alltag im Altenheim Neviandtstraße, Wohnbereich A2.

"Unsere Bewohner sind sehr liebebedürftig wie kleine Kinder. Langweilig wird es bei uns nie", sagt Wohnbereichsleiterin Jessy und greift sich ein frisches Handtuch und einen Waschlappen vom Wäschewagen. Bei drei Bewohnern hat sie heute Morgen schon die Windel-Einlagen gewechselt, sie gewaschen und - falls die Bewohner nicht bettlägrig sind - ihnen beim Anziehen und Aufstehen geholfen. Sechs weitere hat sie noch vor sich. Ihre Kollegin Corinna kümmert sich in der Zwischenzeit um die Bewohner auf der anderen Flurseite.

Hier fasst Schwester Jessy eine alte Dame an die Schulter, um sie zu wecken, "Aufstehen Liebes, es ist Zeit". Dort erkundigt sie sich nach dem Skatspiel am Abend, nach dem Besuch des Bruders und ob dieser auch an die Zigaretten gedacht hat - nicht immer können die alten Leute ihr folgen.

Bei einem anderen Bewohner wird erst das Radio mit Schlagermusik eingeschaltet, dann wird er nach einem festen Ritual angezogen, Jessy reicht ihm Rasierer und After Shave. "Der Tagesverlauf ist klar strukturiert. Das ist wichtig für Demenzkranke. Wenn ein Notfall dazwischen kommt, geraten sie aus dem Konzept." Immer wieder wird die junge Frau von den Bewohnern an sich gezogen und fest geknuddelt - und sie erwidert die Nähe liebevoll.

Natürlich sind da auch die härteren Fälle: Eine Bewohnerin weint bitterlich, weil ihr der Bauchgurt, mit dem sie über Nacht am Bett fixiert ist, nicht schnell genug gelöst wird. Für den Gurt wird eine richterliche Genehmigung benötigt. Vorher war die alte Dame nachts im Wohnbereich umhergeirrt.

Ein anderer ist so dement, dass er nichts mitbekommt, er kaut den ganzen Tag auf seiner Zunge. Ist er schlecht drauf, weiß er nicht mehr, wie das Schlucken funktioniert, wenn man ihm die Schnabeltasse gibt. Die Milch läuft unkontrolliert aus seinem Mund. Bei der Körperpflege muss der große, schwere Mann mühsam von zwei Personen gedreht werden - ein schweißtreibender Job.

Natürlich hängt dabei immer auch der Geruch von Urin und vollen Windeln in der Luft. Aber die Hemmungen vor der Intimpflege gehen schnell verloren. "Für mich sind die alten Menschen wie kleine Babys mit Falten, die gepflegt werden müssen. Ich kann mir keinen anderen Job vorstellen", sagt die 27-jährige Jessy, die mit 16 den ersten Kontakt zur Pflege hatte. Kleinigkeiten werden zum Erfolgserlebnis: "Ich gehe froh nach Hause, wenn ich weiß, dass eine Bewohnerin ordentlich getrunken oder sich ihre Bluse selbst zugeknöpft hat."

Ihre Schützlinge kennt Jessy in- und auswendig: "Die eine vergisst gerne ihren Rollator. Die andere trinkt den Kaffee nur schwarz wie die Nacht." Natürlich habe jeder Pfleger auch seine Lieblinge. Dann liefe einem der Tod des Schützlings besonders über die Bettdecke.

Überhaupt der Tod. In der kurzen Zigarettenpause mit der Kollegin dreht sich das Gespräch auch um dieses allgegenwärtige Thema: "November und Dezember, das sind schlechte Monate fürs Herz. Da haben wir viele Todesfälle", weiß Schwester Corinna aus langjähriger Erfahrung und fügt nach einem Schweigen hinzu: "Wenn einer stirbt, nimmt er häufig zwei andere mit. Das ist leider so." Hatte der Bewohner keine Angehörigen mehr, kommt es auch schon mal vor, dass die Pfleger zur Beerdigung gehen.

Die Zeit drängt - wie so oft in der Altenpflege. "Im Demenzbereich ist man mit der Grundpflege eigentlich nie fertig. Da könnten wir sofort wieder von vorne anfangen", sagt Jessy. Bis zum Frühstück muss alles fertig sein, pünktlich um 8 Uhr bekommen die Diabetiker ihr Insulin, die Medikamente werden verteilt.

Dann geht es mit Büroarbeit weiter. Jeder noch so kleine Schritt muss dokumentiert werden: Genau wird Buch geführt, wann der Bewohner wie viel gegessen und getrunken hat, ob er Blähungen hatte und regelmäßigen Stuhl. Für jeden Handgriff gibt es genaue Standards. Jedes Haarekämmen und Säubern der Zahnprothese, jedes Umlagern im Bett muss laut Vorschrift des Medizinischen Dienstes festgehalten werden.

Damit soll überprüft werden, ob der Pflegeaufwand angemessen ist. Dahinter steht natürlich auch die leidige Frage nach der Kostenübernahme. "Ich verbringe mehr Zeit bei der Dokumentation als bei den Bewohnern. Das ist genau verkehrt herum", sagt Jessy.

13.30 Uhr, kurz vor Ende der Frühschicht, das Mittagessen ist vorbei. Alle zwei Stunden haben die beiden Pflegerinnen die bettlägrigen Bewohner umgelagert, um ein Wundliegen zu verhindern, Getränke gereicht und Toilettengänge begleitet. Zwischendurch haben sie aufgelöste alte Menschen getröstet, Inkontinenzeinlagen ausgetauscht, sich teils wirre Erinnerungen angehört, Brote geschmiert und Zigarettenrationen verteilt. Auch das Organisieren von Arztbesuchen, hauswirtschaftliche Arbeiten und Medikamentenbestellungen gehören zur Pflege.

Schwester Jessy übergibt jetzt an ihre Kollegin Larissa, die sich in der nächsten Schicht mit einer Kollegin um die Bewohner kümmert. Das Team geht jeden Bewohner, seine Tagesverfassung und Besonderheiten durch. "Herrn Bayer sollte sich noch mal der Psychologe anschauen. Seine depressiven Phasen haben zugenommen", sagt Jessy. Schwester Larissa will gleich am Nachmittag einen Termin beim Arzt vereinbaren.