Interview Der Mann, der in der Nazi-Zeit im Bergischen das Sagen hatte

Wuppertal · Historiker Klaus Goebel über seine Gespräche mit NSDAP-Kreisleiter Alfred Straßweg.

Historiker Klaus Goebel (l.) im Gespräch mit Alfred Straßweg, der von sich sagt, er habe die Schwebebahn gerettet.

Foto: Bärbel Behrendt

Von 1937 bis 1945 hatte in Wuppertal der NSDAP-Kreisleiter Alfred Straßweg das Sagen – ein gelernter Maler und Anstreicher. Nach dem Krieg konnte er als „Minderbelasteter“ bald wieder seinem Beruf nachgehen. In den Jahren 1979 bis 1984 führte der Wuppertaler Historiker Klaus Goebel 13 Gespräche mit dem Mann, der keinerlei Unrechtsbewusstsein hatte.

Was hat Alfred Straßweg während der NS-Zeit in Wuppertal und im Bergischen Land zu verantworten?

Am Vorabend des 50. Geburtstags am 20. April 1939 hatte Hitler die Politischen Leiter der NSDAP in die Neue Reichskanzlei eingeladen, darunter den Wuppertaler Kreisleiter Alfred Straßweg (Pfeil).

Foto: Archiv Klaus Goebel

Klaus Goebel: Folgt man seinen eigenen Worten, so hat er vor allem „die Schwebebahn gerettet“, was er im ersten Telefonat gleich zu Anfang betonte. Darauf komme ich zurück. Jeden Morgen brachte ihn ein Dienstwagen der Partei vom Wohnort Wermelskirchen zum Sitz der Wuppertaler NSDAP-Kreisleitung in der Briller Straße, dem sogenannten „Braunen Haus“ und abends zurück. Zu den wichtigsten Aufgaben des Kreisleiters gehörte der ständige Kontakt mit der Parteibasis. Laufend besuchte er die Ortsgruppen und traf sich, wie er berichtete, fast wöchentlich mit den Ortsgruppenleitern. Der Partei wurden im Zweiten Weltkrieg zusätzliche Aktivitäten übertragen: Dazu gehörte, Hilfsmaßnahmen bei Bombenangriffen zu organisieren, für die Evakuierung nach den Großangriffen auf Barmen und Elberfeld 1943 zu sorgen oder Gefallenenehrungen vorzubereiten. Nicht weniger wichtig waren ständige Kontakte zur Düsseldorfer Gauleitung und zu den Zeitungen, die Kontrolle der Stadtverwaltung und ein guter Draht zu maßgebenden Stellen und Gruppen in der Stadt. Das Wuppertaler „Braune Haus“ wurde zur Schaltstelle zwischen Partei und Gesellschaft. Da von Straßwegs acht Wuppertaler Jahren fast sechs vom Krieg bestimmt waren, blieb es nicht aus, dass er gegen Ende immer mehr als Durchhalte-Redner unterwegs war.

Womit ist er besonders in Erscheinung getreten?

Goebel: Als 23-Jähriger wurde Straßweg 1925 Mitglied der NSDAP und gehörte damit zu den sogenannten „Alten Kämpfern“. In den folgenden 20 Jahren trat er vor allem als Propagandist der Partei hervor. Der Redner war gefragt. Schon bald wurde er Ortsgruppenleiter in seiner Heimatstadt Wermelskirchen. Ich fragte ihn, ob man ihn in dieses Amt gewählt habe und welche Beschlüsse in der Ortsgruppe zustande gekommen seien. „Der Begriff ‚Beschluss‘ war uns fremd. Der war ja gar nicht notwendig“, so die Antwort. In Wuppertal habe er als Kreisleiter bestimmt, wer Ortsgruppenleiter werde. Er selbst sei ja auch vom Gauleiter zum Kreisleiter ernannt worden. So sah die im Führerstaat von oben nach unten praktizierte „Führerschaft“ aus. Demokratisches Verhalten war seit dem ersten Tag dieser Herrschaft abgemeldet. Da heißt es in der Rheinischen Landeszeitung Wuppertal am 4. Oktober 1937 von Straßwegs Eröffnungsansprache einer Gaukulturwoche im Barmer Stadttheater, dem heutigen Opernhaus, „in seiner klaren, gedanklich reichen und bildhaft schönen Sprache“ habe Straßweg „die Hörer bis ins Innerste“ getroffen. Jede seiner Reden zeigte auch seine Belesenheit. Vor allem kamen historische Fakten und Vergleiche aus germanischer und deutscher Geschichte zum Zuge, die er für den Nationalsozialismus passend zurechtlegte. Dass er als Kreisleiter sowohl den Vorsitz des Bergischen Geschichtsvereins wie die Leitung des Schlossbauvereins Burg an der Wupper okkupierte, vervollständigt das Bild.

Straßweg (2. von links) mit dem Remscheider Oberbürgermeister Dr. Walther Hartmann (5. v. l.) bei einer Feierstunde. Genauer Anlass und Datum des Fotos sind bisher unbekannt, Leserhinweise an die Redaktion werden erbeten.

Foto: Archiv Klaus Goebel

Wie ist es zu Gesprächen mit ihm gekommen?

Goebel: Ich hatte 1978 den Arbeitskreis „Wuppertal in der NS-Zeit“ ins Leben gerufen und eine Befragung Straßwegs vorgeschlagen. Der Arbeitskreis beauftragte mich damit. Er war der prominenteste Wuppertaler Nationalsozialist, der noch lebte. Die etwa zwanzig Arbeitskreismitglieder formulierten einmal einen Katalog von Fragen, die ich ihm vorlegte.

Über was haben Sie mit ihm gesprochen?

Goebel: In 13 Gesprächen zwischen 1979 und 1984 habe ich versucht, mich sachlich mit ihm über die Zeit zu unterhalten, deren Zeuge und politisch Mitwirkender er war, erlebte aber immer wieder, dass Straßweg Fragen auswich oder sie nicht beantworten konnte oder wollte. Für manchen Zusammenhang bedürfte es weiterer Quellen. So erschien er, wie er berichtete, 1933 in dem von der SA organisierten KZ Kemna, um die Entlassung eines Wermelskirchener Bürgers zu erwirken, und beklagte sich über den Empfang, der mangelnden Respekt vor einem Kreisleiter offenbart hätte. In seiner Kritik kommt der Hauptverantwortliche für diese frühe KZ-Gründung, der SA-Führer und Wuppertaler Polizeipräsident „Emmes“ Veller, schlecht weg. Mit Hitler habe er mehrfach gesprochen und Goebbels schon in dessen Zeit als Parteifunktionär in Elberfeld 1926 kennengelernt. Straßweg wörtlich: „Ich kann ruhig sagen, dass ich ein Schüler von Goebbels bin.“ Er durfte den Reichspropagandaminister jederzeit anrufen. Die letzte Begegnung fand im Juni 1943 statt, als Goebbels nach dem verheerenden Bombenangriff auf Barmen und Ronsdorf nach Wuppertal kam und mehrere Reden hielt. Der Besucher bediente sich Straßwegs Dienstwagen. Im Wagen habe Goebbels das durch die Sängerin Lale Andersen gerade populär gewordene Lied „Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei“ gesungen.

Welche Erkenntnisse konnten Sie aus den Gesprächen gewinnen?

Goebel: In Straßwegs Berichten kommt das Führerbewusstsein zum Ausdruck, das ihn erfüllte. Es war alles richtig, was der „Führer“ Adolf Hitler bestimmte und er selbst als Kreisleiter in Wuppertal befohlen hatte. Unversehens wird Alfred Straßweg in diesen Gesprächen und Erinnerungen selbst zum „kleinen Führer“.

Lässt sich ein kommunales Beispiel nennen?

Goebel: Der Oberbürgermeister leitete die Stadtverwaltung und hatte in der Kommune seit dem „preußischen“ 19. Jahrhundert eine starke Stellung inne. Das änderte sich 1933 rasch. Die Leitlinien bestimmte bald der Kreisleiter. „Ich habe mit den Oberbürgermeistern täglich gesprochen,“ so Straßweg – und die Marschrichtung festgelegt, möchte man hinzufügen. Als im Tal in den 30er-Jahren die engen Verkehrswege dem aufkommenden Auto hinderlich zu werden drohten und sich eine Neuordnung des Straßenverkehrs abzeichnete, waren Stimmen zu hören, die Schwebebahn zu beseitigen, der Wupper einen Deckel zu verpassen und eine neue Durchgangsstraße darüber zu legen. Das war zunächst ein Gedankenspiel auch beim OB, aber noch keine Festlegung. Straßweg erklärte aber sofort, die Schwebebahn bleibe. So nannte er sich auch unverblümt schon im ersten Gespräch „Retter der Schwebebahn“. Bombenkrieg und Wiederaufbau taten ein Übriges und sorgten dafür, dass in Barmen und Elberfeld breite Verkehrsschneisen entstanden und die Schwebebahn schon deshalb erhalten blieb.

Wie erklären Sie sich die Entwicklung seiner Einstellung und sein Festhalten am NS-Gedankengut?

Goebel: Es kann einem die Sprache verschlagen, nach all dem, was passiert war, von Straßweg zu hören: „Polen hat den Krieg begonnen.“ Er war unbelehrbar, ohne Unrechtsbewusstsein und Einsicht – anders sind seine Ausführungen kaum zu erklären. Eine psychologische Untersuchung könnte manches zutage fördern. Uns bleibt die Aufgabe, auf der Hut zu sein, um zu verhindern, Menschen, die einem Kreisleiter Straßweg gleichen, Verantwortung für andere Menschen, für ein ganzes Gemeinwesen zu übertragen.

Wie erging es Ihnen bei den Gesprächen?

Goebel: Straßweg wusste nach den Verhören durch Spruchkammer und Entnazifizierungskommission, dass er vorsichtig zu formulieren hatte, ohne den „Alten Kämpfer“ zu verbergen. Er durfte keine persönliche Schuld auf sich nehmen. So sagte er einmal: „Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, dass ich keinen Juden angefasst hätte, nur weil er Jude war.“ Doch sogleich folgte eine zentrale Aussage nationalsozialistischer Ideologie: „Aber man muss auch sehen: Juden wollen die Welt beherrschen.“ Bei diesen und ähnlichen Äußerungen wird man das Gefühl nicht los, dass es angesichts solcher Menschen, die zu politischen Entscheidungen beitrugen, in Deutschland so kommen musste, wie es 1945 gekommen ist.