Begrabt mein Herz in Wuppertal Der Untergang Wuppertals als Tagtraum im Einwohnermeldeamt
Wuppertal · Kolumnist Uwe Becker über die Folgen langer Wartezeiten.
Wenn man wie ich nur ein paar Stunden in der Woche arbeiten muss, und die üppige Entlohnung hierfür in keinem Verhältnis zum Arbeitsaufwand steht, verfügt man über gute Laune und ausreichend Tagesfreizeit. Ich habe daher in der vergangenen Woche einen Testbesuch im viel gescholtenen Einwohnermeldeamt durchgeführt, um zu überprüfen, ob die Wartezeiten wirklich so elendig lang sind. Nachdem ich ausgeschlafen und ausgiebig gefrühstückt hatte, fuhr ich mit dem Schwebebahn-Ersatzverkehr nach Barmen. Vor der Türe des Amtes standen viele Frauen, Männer und Kinder, die sich angeregt unterhielten, rauchten und ihren Nachwuchs anbrüllten. War ich hier richtig? Kann man sich an diesem Ort wirklich ummelden oder einen Personalausweis beantragen?
Oh ja, es war ganz sicher das Einwohnermeldeamt, auch weil einige aufgeregte Mitbürger über die langen Wartezeiten schimpften, und überhaupt sei der Oberbürgermeister daran schuld. Im Vorraum des Amtes herrscht immerhin Rauchverbot, aber auch ein reges Treiben und aufgeregtes Gebabbel. Zunächst zog ich mir eine dieser Nummern und setzte mich auf ein gerade freigewordenes Plätzchen einer Bank. Ich holte mein Smartphone aus der Jackentasche, um ein wenig zu daddeln, steckte es aber sofort wieder ein, weil mich ein kleiner Junge im Blick hatte, dem wenigsten ich ein gutes Vorbild sein wollte, wenn seine dauertelefonierende Mutter dieser Verantwortung schon nicht nachkam.
Da ich morgens einen Bericht über die einsturzgefährdeten Häuser in Langerfeld gelesen hatte, stellte ich mir vor, dass just in dem Moment, wenn ich gleich am Schreibtisch des städtischen Mitarbeiters sitze, urplötzlich, wie bei einem Erdbeben, alle Wände wackeln, die Decke teilweise herunterfällt und im Amt eine große Panik ausbricht. Männer, Frauen und Kinder laufen schreiend auf die Straße. Draußen sieht man, wie am Alten Markt riesige Löcher entstehen und Autos und Busse in die Tiefe gerissen werden. Der Himmel verdunkelt sich, und überall riecht es nach verbrannter Erde. Am Ende des Tages sind 99 Prozent von Wuppertal komplett zerstört. In der Tagesschau wird am Abend vom Untergang der Bergischen Metropole berichtet. Die Bundeskanzlerin wird mit einem Hubschrauber eingeflogen und besucht zusammen mit OB Mucke schwerverletzte Menschen, die in Krankenhäusern von Solingen und Remscheid aufgenommen wurden, da in Wuppertal alle Kliniken zerstört sind. Das Gerüst der Schwebebahn steht teilweise noch, einzelne Stützpfeiler drohen aber bald umzufallen.
Das Ausmaß der Naturkatastrophe ist verheerend: ein Großteil der Wuppertaler Bevölkerung wird obdachlos, viele Menschen verlieren ihr Leben. Auch im Zoologischen Garten haben Mensch und Tier nicht überleben können. Vereinzelt werden noch Kleintiere, wie Erdmännchen und Vogelspinnen beobachtet, die wohl einzigen Überlebenden des grünen Zoos. Das Tanztheater hatte am Tag der Katastrophe eine Aufführung in Paris und fand in der Seine-Metropole direkt eine neue Bleibe. Als Ursache für die gravierenden Erdbewegungen, die diese furchtbare Katastrophe ausgelöst hatte, wurde später der Wasserrohrbruch in Langerfeld verantwortlich gemacht, da dort die ersten Häuser einstürzten, und hierdurch einen Domino-Effekt auslösten. Wuppertal war praktisch ausgelöscht, vom Erdboden verschluckt. Die wenigen Häuser, die noch auf den Höhen von Cronenberg und Ronsdorf stehenblieben, mussten später aus Sicherheitsgründen abgerissen werden. Ganz Wuppertal war ein Trümmerfeld und wurde fortan „Tal des Todes“ genannt.
Als ich kurz aus diesem Tagtraum erwachte, wurde auf der Anzeigetafel gerade meine Nummer eingeblendet, da ich aber eh nur hier war, um zu überprüfen, wie lange man wirklich ohne Termin warten muss, bei mir war es eine gute Stunde, blieb ich einfach sitzen und tauchte zurück in mein spannendes Kopfkino: in einem ARD-Brennpunkt wurde ausführlich über die Zerstörung von Wuppertal berichtet. Ein Sprecher des Deutschen Roten Kreuzes mahnte, die Stadt müsse nun zügig neu aufgebaut werden, damit die gut 350 000 Menschen wieder neue Wohnungen bekommen. Dabei fügte er schmunzelnd hinzu: „Man sollte dann aber besser direkt ein großes und personell überbesetztes Einwohnermeldeamt bauen, um Beschwerden über zu lange Wartezeiten bereits im Vorfeld den Wind aus den Segeln zu nehmen!“