Erkrankung Deutsche Tinnitus-Liga: Vor fast vier Jahrzehnten in Wuppertal gegründet
Wuppertal · Der Ton im Ohr als Katastrophe.
Es ist ein unangenehmer Ton im Ohr, der einfach nicht mehr weggeht und der den Menschen, der ihn ständig hört, oft schwer belastet. Etwa vier Millionen Menschen leben in Deutschland mit dieser Erkrankung. Zwei davon haben sich Mitte der 80er-Jahre zufällig in der Wuppertaler Schwebebahn getroffen und sich auf dem Weg zu einem Seminar über ihre Erfahrungen ausgetauscht. „So wussten sie, dass sie nicht die Einzigen sind, die darunter leiden, und haben die erste Selbsthilfegruppe gegründet. Daraus ist 1986 die Deutsche Tinnitus-Liga als Verein entstanden, der heute rund 11 000 Mitglieder hat“, berichtet der Vorstandsvorsitzende, Bernd Strohschein.
Bei ihm begann die Erkrankung bereits vor 40 Jahren. „Das passierte bei mir eher schleichend und zu einem eher frühen Zeitpunkt, in der Regel tritt die Erkrankung erst mit etwa 45 bis 50 Jahren auf. Zunächst konnte ich die hohen Töne nicht mehr hören, dann kam das helle Pfeifen im Ohr, das bis heute nicht mehr aufgehört hat. Der Ton hört sich an wie beim früheren Testbild im Fernsehen. Damals kannten selbst HNO-Ärzte den Begriff Tinnitus nicht und sprachen noch von einem Ohrensausen. Denn man ging davon aus, dass der Ton im Ohr entsteht. Heute weiß man, dass dieser sich im Hörzentrum des Gehirns bildet, weil das Ohr bestimmte Frequenzen nicht mehr liefern kann und so das Gehirns einen Ersatzton erzeugt, den Tinnitus.“
Ausgangspunkt ist bei vielen Betroffenen die sogenannte Hochton-Schwerhörigkeit, die jeden Menschen ab 45 Jahren betreffen kann. „Oft fängt es damit an, dass man in einer größeren Gruppe nur noch die Menschen verstehen kann, die in der unmittelbaren Nähe stehen. Oder man stellt beim sonntäglichen ‚Tatort‘ den Fernseher lauter, weil man bei der Hintergrundmusik die Dialoge nicht mehr versteht, weil diese die gleiche Frequenz haben“, erläutert Strohschein, der selbst ehrenamtlich für die Liga als Berater tätig ist.
Aus der Hochton-Schwerhörigkeit entsteht häufig in Kombination mit Stress im Beruf oder im Privatleben der Tinnitus. Auch Verspannungen in der Halswirbelsäule können die Erkrankung hervorrufen und verstärken. „Das markante Pfeifen gibt es auch schon mal bei jungen Menschen, wenn sie bei sehr lauter Musik abends in der Disco waren. Da ist das Pfeifen aber in der Regel am nächsten Morgen wieder weg. Auch Studenten, die unter extremen Prüfungsstress stehen, können kurzzeitig einen Tinnitus bekommen, aber auch da verschwindet das unangenehme Geräusch bald wieder, wenn sich die Lage wieder entspannt hat.“
Doch bleibt der Tinnitus länger als drei bis sechs Monate erhalten, spricht man von einer chronischen Erkrankung. „Dann ist es ganz zentral, wie man mit dem Ganzen umgeht. Etwa die Hälfte der Betroffenen arrangiert sich mit dem Geräusch und kommt so gut damit zurecht. Für andere Menschen ist das ständige Pfeifen im Ohr eine echte Katastrophe, die im Extremfall sogar zu Depressionen führen kann.“
Patienten greifen oft verzweifelt nach jedem Strohhalm
„Sehr wichtig ist es, dass man sich professionelle Hilfe bei einem HNO-Arzt holt, der das Gehör genau untersucht. In der Leitlinie Chronischer Tinnitus, die Empfehlungen für die Behandlung gibt, werden Medikamente gegen Tinnitus, Geräuschgeneratoren oder Apps nicht empfohlen. Leider greifen die oft sehr verzweifelten Patienten häufig nach jedem Strohhalm. Auch ich habe viel ausprobiert, was letztlich nicht geholfen hat.”
Das Einzige, was nach der Erfahrung des Betroffenen und Experten wirklich hilft, ist eine kognitive Verhaltenstherapie, bei der Menschen lernen, mit dem ständigen Pfeifen im Ohr zurechtzukommen und es einfach zu überhören. „Wichtig ist aber auch, dass man, wenn es bei einer Schwerhörigkeit die Indikation für ein Hörgerät gibt, sich dieses auch anschafft und regelmäßig trägt. Für viele beendet so ein Gerät auch während der Tragezeit das unangenehme Geräusch im Ohr. Auch mir hat das wirklich geholfen, ich kann bei einem Waldspaziergang die Vögel wieder hören und einen ‚Tatort‘ im Fernsehen bei normaler Lautstärke genießen”, berichtet Strohschein.
Die Deutsche Tinnitus-Liga kooperiert mit etwa 20 Kliniken, die spezielle Programme für Tinnitus-Patienten anbieten. Auch hier steht die kognitive Verhaltenstherapie im Mittelpunkt, wird aber durch weitere Angebote sinnvoll ergänzt. „Nach drei bis vier Wochen in der Klinik bekommen die Menschen in der Regel ihre Erkrankung gut in den Griff.“
Zur Deutschen Tinnitus-Liga, die ihre Geschäftsstelle in Ronsdorf hat, gehören aktuell mehr als 60 Selbsthilfegruppen. Die ältesten befinden sich unter anderem in Wuppertal und Solingen. In ihrer Zeitschrift Tinnitus-Forum veröffentlicht die Liga zudem die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Thema. „Wir arbeiten hier sehr eng mit Wissenschaftlern zusammen, die in der Leitlinienkommission Behandlungsempfehlungen für Fachärzte erarbeiten. Zu unseren wichtigsten Aufgaben zählt die Öffentlichkeitsarbeit und die Unterstützung der Selbsthilfegruppen, deren Leiter wir regelmäßig schulen, um Betroffene über die Erkrankung und ihre Behandlungsmethoden aufzuklären.“ Menschen mit Tinnitus können sich über die Website an die Deutsche Tinnitus-Liga wenden und finden dort Unterstützung.